Wien – Einzig das wilde Getrappel von den kleinen Füßen überdeckt das aufgeregte Getuschel, das sich durch die Reihen zieht. Die Nerven des Publikums sind zum Zerreißen gespannt. Die Augen werden größer und größer. Dabei wissen eigentlich alle im Raum ganz genau, was passieren wird, sobald sich der Vorhang lüftet.

Hinter dem roten Samt herrscht Gewusel. Und für einen kurzen Moment rutscht ein grünes Krokodilsmaul zwischen den zwei Seitenteilen hervor. Es öffnet den roten Rachen. Kreischen. Kichern.

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Keine Angst vor Hexen, Teufel, Tod

"Die größte Angst haben die Kinder vorm Krokodil", sagt Elis Veit, die das Kasperltheater im Prater betreibt. Vor Hexen, dem Teufel oder gar dem Tod fürchten sie sich kaum: "Beim ersten Auftritt des Todes hat etwa ein Kind gerufen, das Gerippe habe seine Hose vergessen." Der Tod lief beschämt von der Bühne, suchte seine Hose und wurde zur Lieblingsfigur der Vorstellung.

"Das Publikum ist bei uns sehr wichtig", sagt Veit. Für jedes Stück bereiten die Puppenspieler zwar die Geschichte im Groben vor, die Gespräche sind jedoch improvisiert. Wie es in der Vorstellung weitergeht, bestimmen die Kinder.

Kasperl wird geholfen

Was aber seit je gleich ist: Bösewichte werden vom Publikum verpetzt. Kasperl wird gewarnt, ihm wird geholfen. "Achtung Kasperl, hinter dir!", schreien die Kinder und zeigen mit ihren Fingern nervös auf Häuser und Bäume aus hängenden Stoffbahnen auf der Bühne.

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Das Kasperltheater – oder Wursteltheater – im Wiener Prater gehört zu den ältesten Unterhaltungsangeboten im Wiener Vergnügungspark. Es verlieh dem Park auch seinen Namen. Das Puppentheater knüpft an die Hans-Wurst-Komödie des frühen 18. Jahrhunderts an, die im Vormärz verboten wurde.

Kein Pezi-Bär

Der Star jeder Prater-Aufführung – der mutige Kasperl – hat im Gegensatz zum Puppentheater in der Urania keinen Pezi-Bären an seiner Seite, sondern einen blauen Vogel zum Freund: Boing. "Mein zweites Ich", sagt Veit, die dem Piepmatz ihre Stimme borgt.

Man müsse das Kasperltheater "als Traum von Kindern sehen", sagt Veit. Darum werde das Böse immer besiegt: "Es gibt bei uns kein Bussi vom Krokodil – und alles ist vergessen. Der Böse darf am Schluss nicht mehr mitspielen."

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Im Puppenkampf zwischen Gut und Böse hat der Prater-Kasperl noch einen weiteren Vorteil: Wie früher schlägt er das Krokodil mit der Pritsche – einer Holzplanke – in die Flucht. "Das gibt es sonst nirgendwo mehr", sagt Veit. Auch darüber hinaus ist im Prater alles ganz klassisch: holzgeschnitzte Puppen statt Pappe und Geschichten mit mythologischem Hintergrund.

Puppenbauen in der Urania

Veits Begeisterung für Puppen begann früh. Mit dem älteren Bruder verbrachte sie ihre Freizeit am liebsten beim Kasperl in der Urania. In ihrer Jugend baute sie Marionetten. In der Urania lernte sie bei Hans Kraus nicht nur den Beruf der Puppenbauerin, sondern auch gleich jenen der Spielerin. "Gute Puppen kann man nur bauen, wenn man sie auch spielen kann", habe Kraus zu ihr gesagt: "Jede Puppe hat ihre eigenen Bewegungsabläufe."

Veit stülpt sich ihre beiden Puppen über, Hexe und Vogel, und schlüpft in ihre Keilabsatzschuhe. "Wir spielen über Kopf, und die Bühne ist immer an den Größten angepasst", erzählt die Kleinste im Theater.

Im Saal geht das Licht aus. Der Vorhang öffnet sich: "Seid ihr alle da?" , fragt der Kasperl die wartende Meute. Die richtige Antwort kennen alle im Raum – egal wie alt sie sind: "Jaaa." (Oona Kroisleitenr, Maria von Usslar, 21.5.2016)