Mitinitiator Jan Roos tourt durchs ganze Land, um gegen das Assoziierungsabkommen zwischen EU und Ukraine Sturm zu laufen.

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Der Rechtspopulist Geert Wilders bei seiner Stimmabgabe in Den Haag. Er feiert das Ergebnis als "Anfang des Endes der EU".

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Es sollte ein Denkzettel werden für die Mächtigen in Brüssel und in Den Haag, die nicht aufs Volk hören. Eine Lektion in Sachen Demokratie. Ein Tritt gegen das Schienbein des niederländischen Premierministers Mark Rutte.

Der dürfte laut "Au" geschrien haben. Denn der Tritt ist heftiger ausgefallen als erwartet: 61,1 Prozent der abstimmenden Niederländer sprachen sich in dem Referendum am Mittwoch gegen das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine aus, lediglich 38,1 Prozent dafür. Das Nein war deutlich und überzeugend. Wobei nicht vergessen werden darf, dass es neben Befürwortern und Gegnern ein drittes Lager gab, das der Nichtwähler: Mehr als zwei Drittel aller Wahlberechtigten sind zu Hause geblieben.

Deshalb blieb es bis zum letzten Moment spannend. Denn um dieses konsultative Referendum gültig werden zu lassen, musste die Wahlbeteiligung über 30 Prozent klettern. Erst gegen Mitternacht stand fest: Es sind 32,2 Prozent geworden – es hat gereicht.

Initiator spricht von neuer Ära

Großer Jubel herrscht bei den beiden Bürgerinitiativen, die das Referendum initiiert hatten. "Die Demokratie hat gewonnen", sagt der neokonservative Jurist Thierry Baudet vom "Forum für Demokratie" und prophezeit den Anbruch einer neuen Ära: "Die Europadebatte wird in den Niederlanden fortan anders geführt werden."

Was viele für ausgeschlossen hielten, ist den Initiativen gelungen: innerhalb von nur sechs Wochen mindestens 300.000 Unterschriften zu sammeln. Unter dieser Voraussetzung können niederländische Bürger seit dem 1. Juli 2015 selbst eine Volksabstimmung für Gesetzesvorschläge initiieren. "Diese Regelung kam uns gerade recht", gibt Professor Arjan van Dixhoorn zu, Historiker und Mitbegründer des "Burgercomité EU", der zweiten Bürgerinitiative. Mit der Ukraine habe das gar nicht viel zu tun: "Wir haben von der ersten Gelegenheit Gebrauch gemacht, die sich uns bot, um dieses Gesetz anzuwenden – und das war das Assoziierungsabkommen."

Glaubwürdigkeitsproblem der Regierung

Die Folge: Premierminister Rutte steht vor einem Dilemma und hat ein doppeltes Glaubwürdigkeitsproblem – gegenüber den Wählern zu Hause und in Brüssel. Denn bis Ende Juni haben die Niederländer die EU-Ratspräsidentschaft inne und sollten eigentlich Probleme lösen, anstatt für neue zu sorgen. Zwar geht es nur um ein konsultatives Referendum, es ist nicht bindend. Aber ein Jahr vor der Parlamentswahl kann es sich Rutte nicht leisten, ein Votum des Volkes einfach zu ignorieren – auch wenn das niederländische Parlament das Assoziierungsabkommen längst abgesegnet hat. "Wir können den Vertrag nicht mehr einfach so ratifizieren, wie er ist", sagte Rutte nach der Abstimmung.

Abgeordnetenhaus und Senat werden sich nun ein zweites Mal damit befassen müssen, mit dem Ergebnis will Rutte dann in Brüssel neu verhandeln. Was dabei herauskommen wird, ist noch völlig offen. Voraussichtlich werden die Niederländer darauf beharren, Zusatzklauseln aufzunehmen, in denen sie sich explizit gegen eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine aussprechen, mögliche Subventionen ausschließen und auch sämtliche Pläne für eine militärische Zusammenarbeit ablehnen: Das waren im Referendumswahlkampf die wichtigsten Argumente der Gegner des Abkommens.

Zu ihnen gehören nicht nur die Rechtspopulisten von Geert Wilders, der das Ergebnis bereits als "Anfang des Endes der EU" feiert, sondern auch die Sozialisten am anderen Ende des politischen Spektrums: "Weil der Assoziierungsvertrag mit der Ukraine nichts anderes ist als die Vorstufe für eine EU-Mitgliedschaft", sagt der Fraktionsvorsitzende der Sozialisten, Emile Roemer. "Er könnte uns Arbeitsplätze und Milliarden an Steuergeldern kosten. Und er provoziert den russischen Präsidenten Putin."

Referendum 2005 als Ursache des Denkzettels

Eines will Den Haag diesmal in jedem Fall vermeiden: oberflächliche und rein kosmetische Änderungen wie nach dem berühmt-berüchtigten Referendum 2005 über den Vertrag von Lissabon, der ebenfalls von mehr als 60 Prozent der darüber abstimmenden Niederländer abgelehnt wurde – mit dem Unterschied, dass die Beteiligung damals doppelt so hoch war wie am Mittwoch. Dieser Vertrag ist die Ursache des heutigen Denkzettels. Denn damals fühlten sich die niederländischen Wähler mit ihrem Nein nicht ernst genommen, Unfrieden und Zynismus über Europa und die eigene volksferne politische Elite wurden weiter genährt.

"Unsere Regierung hat den Vertrag von Lissabon abgesegnet, obwohl sich eine Mehrheit der Niederländer zuvor im Referendum von 2005 ganz deutlich dagegen ausgesprochen hatte", schimpft van Dixhoorn. Seither sei ein neuer Superstaat im Entstehen, in dem die Niederlande zu einer Art Provinz degradiert würden: "Obwohl wir 2005 gesagt haben, dass wir das nicht wollen."

EU-Austrittsreferendum geplant

Die Europagegner haben bereits weitere Referenden angekündigt. Nicht nur über Euro und Immigration: "Unser langfristiges Ziel", so van Dixhoorn, "ist ein Referendum, in dem sich die Niederländer so wie die Briten für oder gegen einen Austritt aus der EU aussprechen können."

Aber so laut und deutlich das Nein vom Mittwoch auch erschallt ist: Die EU verlassen will nur eine Minderheit der Niederländer, dem Forschungsinstitut SCP zufolge sind es 24 Prozent. Die meisten begrüßen eine Mitgliedschaft nach wie vor. Von Liebe oder Begeisterung kann aber keine Rede sein. Vielmehr scheint das alte Handelsvolk sich nüchtern damit abgefunden zu haben, dass es trotz allem doch das Beste ist, in der EU zu bleiben. (Kerstin Schweighöfer aus Den Haag, 7.4.2016)