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Es geht nicht immer so herzlich zu zwischen "West-" und "Osteuropa".

Foto: REUTERS/Vera

Der "Osten" sei eine Konstruktion, die den Eindruck von Einheitlichkeit erwecke, wo eine solche gar nicht bestehe, erklärt Oliver Schmitt, Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte. In der "Semesterfrage", die die Universität Wien gemeinsam mit derStandard.at stellt, geht er auf Fragen der Poster ein, die im Eingangsartikel "Europas neuer Osten, ein neues Feindbild?" gestellt wurden.

User byron sully weist darauf hin, dass es in Osteuropa gravierende Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten und auch innerhalb dieser Gesellschaften gibt:

Oliver Schmitt: Ihre Beobachtung ist sehr wichtig. "Osten" ist eine Konstruktion, die den Eindruck von Einheitlichkeit erweckt, wo diese gar nicht besteht. Gerade deswegen ist der unreflektierte Gebrauch des Begriffs nicht nur verzerrend, sondern auch politisch fahrlässig.

Besonderes Augenmerk legt User Spartacus der Sklavenbefreier auf den Umstand, dass im Zuge der Flüchtlingskrise richtungsweisende Entscheidungen für den gesamten Kontinent von Deutschland aus getroffen worden sind – konkret kritisiert er die deutsche Kanzlerin Angela Merkel:

Schmitt: Tatsächlich muss die historische Erfahrung der neuen Mitgliedstaaten sehr ernst genommen werden. Trotz mehrerer Aufstandsversuche, die, wie in Ungarn 1956, zum Teil sehr blutig niedergeschlagen wurden, hat die Sowjetunion die Staaten zwischen Baltikum und Schwarzem Meer nach 1945 ihrer Unabhängigkeit beraubt und Regimen unterstellt, die sich im Wesentlichen nur auf die bewaffnete Macht der Roten Armee und die Bereitschaft der Sowjetunion zu Interventionen stützten.

Länder wie die baltischen Staaten machten zusätzlich besonders traumatische Erfahrungen durch die Auslöschung wichtiger Teile ihrer erst jungen Eliten durch den Terror der stalinistischen Sowjetunion. Unabhängigkeit und eigenständige Entwicklung werden nicht als etwas Selbstverständliches, sondern Fragiles und Gefährdetes angesehen. Nach den Erfahrungen der Zwischenkriegszeit – als Frankreich und Großbritannien kein Sicherheitssystem gegen das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion errichten konnten – ist das Schutzbedürfnis in der Region verständlicherweise groß. Hier kommt der Nato eine wichtige Rolle zu.

Angesichts der historischen Erfahrung von Fremdbestimmtheit durch die Großmächte Deutschland und Russland – und der Aufteilung des Raumes in Interessensphären im Konferenz von Jalta – ist das einseitige und nicht abgestimmte Vorgehen der deutschen Bundesregierung in einer für Europa entscheidenden Frage tatsächlich auf Unverständnis und Ablehnung gestoßen.

Einen persönlichen Bezug bringt User dawaunsinn ins Spiel, der vom Alltag berichtet, wie es dank der Grenzöffnung war und ist:

Schmitt: Sie sprechen einen Gesichtspunkt an, der in der öffentlichen Debatte oft übersehen wird. Tatsächlich ist eine negative Konstruktion des Ostens gerade in gesellschaftlichen Kreisen verbreitet, die sich sehr offen gegenüber Migranten und Flüchtlingen aus dem arabischen und allgemein islamischen Raum zeigen. Weshalb Menschen aus einem konstruierten Osteuropa weniger zugestanden wird, zu einer vielfältigen Gesellschaft beizutragen, als Zuwanderern aus nichteuropäischen Gesellschaften, wird dabei kaum gefragt. Ebenso wenig wird über den Widerspruch nachgedacht, Ausgrenzung aufgrund der Herkunft im einen Fall anzuprangern und im anderen Fall selbst zu praktizieren.

Diese Fragen zeigen, dass wesentliche Elemente der Debatte weniger mit dem Anderen – ob aus dem islamischen Raum oder den neuen Mitgliedsstaaten der EU –, sondern mit unserem eigenen kulturellen und gesellschaftlichen Selbstverständnis und dessen vielfältigen, nicht immer offengelegten und diskutierten Widersprüchen zu tun hat. Die Ablehnung des Ostens in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen ist mit dem scheinbaren Paradox größerer kultureller Nähe zumindest teilweise zu erklären. Bemerkenswert ist in beiden Fällen ein paternalistisches Verhältnis sowohl gegenüber dem "guten" wie dem "bösen" Anderen. Seine Stimme interessiert eigentlich nicht. Er ist vielmehr Objekt von Gesellschafts- und Symbolpolitik.

Gerade die Tatsache, dass aus den neuen Mitgliedsländern der EU auch Widerspruch zu hören ist, der bei uns auch verstanden wird, führt zu politischer Erbitterung – das vermeintliche Objekt wird zum Subjekt im politischen Feld.

Selbstkritisch sieht Max Edwin die Rolle des Westens, der nach der Öffnung der Grenzen den Osten als eine Art Selbstbedienungsladen sah:

Schmitt: Jene Generation in den neuen Mitgliedsstaaten der EU, die die Transition erlebt hat, erbrachte eine Anpassungsleistung, von der man sich in der "alten EU" nur schwer eine Vorstellung macht, geschweige dass man dieser Leistung Anerkennung zollt.

Eine zweite Generation – nach der Wendegeneration – sucht nun ihren Platz in Europa. Nach der starken und einseitigen Anpassung an die Anforderungen der EU in einer ersten Phase geht dies naturgemäß auch mit der Suche nach Eigenem einher. Diese Suche nach dem national Spezifischen ist freilich nicht neu. Seit der Herausbildung von Nationalstaaten in Ostmittel- und Südosteuropa standen einer fast bedingungslosen Westorientierung indigene Strömungen gegenüber. Genährt werden diese von der – nicht unberechtigten – Annahme, West- und Mitteleuropäer interessierten sich von sich aus kaum für den Raum zwischen Baltikum und Schwarzem Meer.

Eine verstärkte kulturelle und intellektuelle Neugier und Offenheit von West nach Ost würde dieses Gefühl der Zurücksetzung und Nichtbeachtung abmildern und zu einer weniger emotionalen Debattenkultur beitragen.

Mit deutlichen Worten wirft User Rationalpazifist um sich, wenn er von den Regierungen Polens und Ungarns spricht – eine Gelegenheit, um Begrifflichkeiten zu klären und an eine konstruktive, der Sache dienlichen Wortwahl zu erinnern:

Schmitt: Die Beobachtung bezieht sich primär auf jene politischen und gesellschaftlichen Akteure, die sich prominent medial zu Worte melden. Leider sind die von mir genannten Tendenzen dort gut belegbar. Dass die Gesellschaften der neuen Mitgliedstaaten vielfältig sind, habe ich angesprochen, greife Ihren Hinweis aber gern auf. Vorsichtig aber wäre ich mit dem Begriff "faschistoid" – ideologisch mag er sich leicht handhaben lassen, analytisch ist er wenig hilfreich, in der politischen Debatte wirkt er lediglich ausgrenzend.

In einer demokratischen Debatte sollte es aus liberaler Sicht darum gehen, in einer durchaus kontrovers geführten Auseinandersetzung das Gegenüber, dessen Ansichten man nicht teilt oder gar klar ablehnt, zu überzeugen. Dies ist ausgesprochen schwierig – und anstrengender als die vorschnelle Etikettierung des politischen Gegners, trägt aber zu einer funktionierenden Demokratie mehr bei als die Ausgrenzung stark wachsender politischer Kräfte. (Oliver Schmitt, 13.4.2016)