"Der neue Chef". Der Titel geht gar nicht. Wäre der Herausgeber dieses Buches nicht auch Herausgeber einer konservativen Tageszeitung, hätte es gewiss anders geheißen. "Der/die neue ChefIn" zum Beispiel. Oder "Die neue Führungskraft". Noch schockierender ist, was auf der Rückseite des Buches zu lesen ist: "Hilfreich ist die Vorstellung, der Vorgesetzte habe keine Kleider an."

2016 ist schon das Denken an diesen Gedanken unmöglich und streng verboten, zumal wenn man eine neue Chefin hat. Nein, das vorliegende Buch wird der Geschlechtergerechtigkeit nicht gerecht. Was daran liegen könnte, dass es sich um eine Zusammenstellung von Aufsätzen handelt, die aus den 1960er-Jahren stammen. Der neue Luhmann also. Fast zwei Jahrzehnte nach dem Tod des Systemtheoretikers hat Jürgen Kaube, der nicht mehr ganz neue Co-Chef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, drei Texte herausgebracht und mit einem Nachwort versehen: "Der neue Chef, Spontane Ordnungsbildung und Unterwachung".

Unterhaltsam, informativ

Für die einen ist Niklas Luhmann der strukturkonservative Totengräber der deutschen Soziologie – ein theoretischer Midas, dem alles, was er in die Finger bekommt, zum entmenschlichten System wird. Die anderen halten ihn für ein Genie und seine Systemtheorie für einen produktiven Ansatz, uns aufzuklären und scheinbare Selbstverständlichkeiten wegzuräumen. Für die Betrachtung des neuen Buches ist nicht sonderlich relevant, welchem Lager man sich zurechnet. Denn, wie gesagt, die Texte stammen aus den 1960er-Jahren, sind also etwa zwei Jahrzehnte vor Luhmanns "autopoietischer Wende" entstanden. Die Lektüre ist für Insider sehr unterhaltsam. Auch für Lesende, denen soziologische Theorie wurscht ist und die einfach etwas über das Leben im Büro erfahren wollen.

Luhmanns Ausführungen wirken reichlich unterkühlt, aber seine Überlegungen sind smart und oftmals brillant. Und eben nicht nur unterhaltsam, sondern sehr, sehr informativ und – trotz der Verstöße gegen die in den 1960er-Jahren unbekannte politische Korrektheit – frappierend aktuell.

Bedeutung von Befindlichkeiten

Luhmann hat (wie der Rezensent übrigens auch) mehrere Jahre im öffentlichen Dienst im norddeutschen Niedersachsen gearbeitet. Und obwohl er sichtlich aus einer Verwaltungsperspektive schreibt, sind seine Erkenntnisse auch auf andere soziale Systeme wie Unternehmen, Hochschulen oder Nichtregierungsorganisationen anwendbar. Diese zum Beispiel: "In Großorganisationen der Berufsarbeit herrschen besondere Bedingungen der Gruppenbildung, die strukturell vorgegeben sind und nicht geändert werden können, will man nicht die Organisation in eine Gemeinschaft des Wohllebens unter ausgesuchten Freunden verwandeln."

Das heißt freilich nicht, dass Gefühle für das Leben im Büro und den Umgang mit Vorgesetzten und Untergebenen irrelevant sind – im Gegenteil: Luhmann betont immer wieder die Bedeutung von Befindlichkeiten. Wo das "Gesetz des Wiedersehens" gilt, sollte man pfleglich mit Beziehungen umgehen.

Formale und informale Ordnung

Ein weiteres durchgehendes Thema ist das Verhältnis von formaler und informaler Ordnung. Formalität schließt Intimität aus: "Mit Hilfe formaler Argumente, die eine unwiderlegbare Sicherheit haben, weil niemand ihnen die Anerkennung verweigert, kann man Situationen unterkühlen, unerwünschte Vertraulichkeiten dämpfen, auch mit Gegnern und Unbekannten flüssig verkehren und potenzielle Feindschaft ungreifbar zum Ausdruck bringen."

Formalität ist aber nicht alles, und in jeder Organisation, so Luhmann, entwickle sich "unter der formalen eine informale Ordnung mit eigenen Rollen". Gegenüber dem formalen Schaubild kann es also zur beträchtlich verschobenen Ordnung des faktischen Einflusses kommen. Aus den funktionalen Rollen gibt es freilich kein Entkommen. Ein Vorgesetzter könne ob seines formalen Status nicht vermeiden, eine Schlüsselfigur zu sein: "Die Frage ist nur, ob er ohne Wissen und Willen benutzt wird, oder ob er das System beherrscht."

Macht = Kooperation

Vor diesem Hintergrund scheint der bisher unveröffentlichte Text "Unterwachung oder Die Kunst, Vorgesetzte zu lenken" unmittelbare Beratung zu versprechen. "Die Macht des Untergebenen", schreibt Luhmann dort, "beruht auf der Komplexität der Entscheidungslage des Vorgesetzten. Dieser braucht Entscheidungshilfen, ist auf Vorsortierung angewiesen. Er wäre verloren, würde der Untergebene alle Probleme nach oben geben." Effektive Macht beruhe auf Kooperation, nicht Konflikt. "Ein solches System wird selbststabilisierend dadurch, daß jede Seite, im Interesse der besonderen eigenen Macht über den anderen, dessen Macht schont und beachtet."

Das kann man optimistisch finden, aber das beschriebene Spiel mit der Reziprozität ist in den 2010er-Jahren sicher noch verbreiteter als in den 1960ern. Wenn Sie als Chefin oder Untergebener ins Büro gehen, hilft Ihnen das vielleicht. In diesem Sinne: Möge die Macht mit Ihnen sein. (Fred Luks, 26.4.2016)