Ob Ingenieursgenie, Gesellschaftssymbolik oder Geld: Architektur in Tiflis fungiert vor allem als Bedeutungsträger, wie hier beim ehemaligen Verkehrsministerium, ...

Foto: Georgian Union of Architcts

... der Brücke des Friedens, ...

Foto: Adolph Stiller

... oder den Berbuk Towers.

Foto: Ellis Williams Architects

Crazy, awesome, insane: Solche Kommentare hagelt es regelmäßig in den gängigen Online-Bilderhalden, wenn eine Fotografie des ehemaligen georgischen Straßenbauministeriums in Tiflis auftaucht. Der Bau aus dem Jahr 1974, ein riesiges Raumgerüst aus gekreuzten Balken, dramatisch in einen waldigen Steilhang gestellt, wie der utopische Fiebertraum eines Ingenieurs an den äußeren Rändern des statisch noch Vertretbaren, ist so etwas wie der permanente Coverstar aller Fans des Brutalismus und der sozialistischen Spätmoderne.

Auch in der Ausstellung "Tiflis – Architektur am Schnittpunkt der Kontinente", die zurzeit im Wiener Ringturm zu sehen ist, nimmt der orthogonale Beton-Eyecatcher eine zentrale Stelle ein. Doch anders als in den meisten Edel-Bildbänden zur Sowjetmoderne ist er hier nicht unter seinesgleichen, sondern Teil einer kuriosen Nachbarschaft, in der es keine Verwandtschaften zu geben scheint. Nimmt man die Schau als architektonisches Konzentrat der georgischen Hauptstadt und ihrer baulichen Entwicklung in den letzten 150 Jahren, gewinnt man den Eindruck, dass in Tiflis das Motto gilt: Anything goes.

Nebeneinander des Nichtkompatiblen

Arabisch-maurische Fassaden aus der Jahrhundertwende. Eine gläserne Doppeltröte am Flussufer. Eine Replik des Berliner Reichstagsgebäudes. Ein opulenter Prunkbau, der fast nur aus einem Runderker besteht und nichts als einen McDonald's beherbergt. Eine monumentale Naturstein-Kathedrale, die gerade mal ein paar Jahre alt ist. Bauten, die durch Neubauten ersetzt wurden, um eine Generation später wieder teilweise durch Repliken der ersten Version ersetzt zu werden. Ein Nebeneinander des Nichtkompatiblen, das fast schon surreale Dimensionen erreicht.

Was wirkt wie ein wild gewordener Selbstbedienungsladen der Architekturgeschichte, in dem die Qualitätssprünge des Gebauten fast schwindlig machen, scheint tatsächlich in der geografischen Lage zwischen Ost und West begründet zu sein. "Das europäische Tiflis nennt sich das asiatische Paris", berichtete der deutsche Industrielle Werner von Siemens, als er 1865 hier zu Besuch war. Eine doppelt gespiegelte Schnittmenge, die gut zur architektonischen Verwirrung des heutigen Stadtbildes passt.

Spuren der Geschichte

Schon zu Siemens Zeit hatten die Perioden der Geschichte hier ihre Spuren in der höher gelegenen europäischen und unteren asiatischen Altstadt mit ihren filigranen Balkonen und Erkern aus Holz hinterlassen. Um 1900 folgten deutsche, italienische und polnische Architekten, die im schnell wachsenden Tiflis das Zubehör städtisch-bürgerlichen Lebens installierten: Theater, Rathaus, Universitätsgebäude.

Nächster Stopp: Stalinismus. Dieser manifestierte sich vor dem Zweiten Weltkrieg nur sparsam, dafür prachtvoll, in der 1938 fertiggestellten, wie eine zeitlose Akropolis über der Stadt thronenden Bergstation der Seilbahn von den Architekten Zakaria und Nadejda Kurdiani, bevor er in den frühen 1950er-Jahren seine in allen Staaten des Warschauer Pakts üblichen Zuckerbäckerstil-Monumentalbauten hinterließ. Eine Prunk-Optik, die sich kurioserweise in den letzten Jahren als perfekter Nährboden für das Upgrade zum Nobelwohnviertel erwies: der sozialistische Klassizismus als Unique Selling Proposition der Marktwirtschaft. Die Architektur als Manövriermasse des jeweils herrschenden Systems.

Moskauer Vorbild

In den 1960er-Jahren schließlich folgten die Eröffnung der U-Bahn mit prunkvollen Stationen nach Moskauer Vorbild, die vierte Metro in der UdSSR, und teils hervorragende Bauten der wuchtigen Spätmoderne, wie der gläserne Rundbau der Philharmonie 1971, der weltstädtisch-weite Busbahnhof "Autowagsal" 1974, und die Star-Wars-Optik des neuen Hauptbahnhofs von 1982, der den zu Breschnew-Zeiten schon überholten Vorgängerbau aus der Stalin-Zeit ersetzte.

Und natürlich der Coverstar dieses Zeitalters, das Verkehrsministerium, dessen Architekt George Chakhava praktischerweise gleichzeitig Minister war und sich somit selbst mit allen entwerferischen Freiheiten beauftragen konnte. Heute residiert hier die Bank of Georgia. Die Repräsentation durch Architektur funktioniert systemübergreifend.

Politische Brüche

Die Auflösung der Sowjetunion brachte Umwälzungen wie den Bürgerkrieg 1991/92 und die "Rosenrevolution" 2003. Auch diese politischen Brüche finden sich in der Ausstellung wieder, in der Geschichte des Iveria Hotels: 1966 als höchstes Gebäude der Stadt errichtet, war der 20-geschoßige Bau das erste Haus am Platz.

1989 bis 1992 wurde es zur Notunterkunft für Flüchtlinge und Obdachlose des Bürgerkriegs, die Fassade mit blaue Plastikplanen verkleidet, die eleganten Balkone mit Holzbrettern zu Notunterkünften erweitert. Heute zeigt sich das Hotel in der dritten Phase seiner Existenz als elegant verspiegeltes Fünfsternehotel, vom Berliner Architekturbüro GRAFT auf globalen Wiedererkennungswert getrimmt.

Neubau im großen Stil

Eine Ära des Neubaus im großen Stil begann nach der Jahrtausendwende. Präsident Micheil Saakaschwili lud während seiner Regierungszeit (2004- 2013) in- und ausländische Architekten ein und plante in Mitterrand' schen Dimensionen. Die Italiener Massimiliano und Doriana Fuksas durften das blob-artige Doppelperiskop von Musiktheater und Ausstellungshalle im Rike Park bauen, ihr Landsmann Michele de Lucci die glasgekrönte Friedensbrücke über den Fluss Kura.

Und die ehemalige Polizeikaserne direkt dahinter wurde als überkuppelte Reichstagsnachbildung zum Präsidentenpalast umgebaut. Daneben entstanden die üblichen, leicht überwuzelt-bunten Büro- und Wohnhochhäuser von eher durchschnittlicher Qualität, auch diese werden in der Ausstellung nicht ausgespart und vervollständigen das architektonische Konzert von fröhlich-lauter Dissonanz.

Dass Staaten gerade in Umbruch- und darauf folgenden Konsolidierungsphasen der Macht auf Hingucker-Architektur setzen, ist nichts Neues. Auch außerhalb der Hauptstadt verewigte sich Saakaschwili mit Prestigebauten. Der Berliner Architekt Jürgen Mayer H., bekannt durch seine fast karikaturenhaft fotogenen, immer leicht rundgelutscht aussehenden Bauten, wurde mit staatstragenden Infrastrukturprojekten beauftragt: ein Flughafengebäude wie ein verbogenes Firmenlogo, eine Grenzstation am Schwarzen Meer als weiße Schlangenlinie und eine Reihe von Autobahnraststätten, die Dinosauriergerippen aus Sichtbeton ähneln.

Bauen als Selbstvergewisserung

Mit dem Ort selbst, mit klimatisch und historisch optimierten Bautraditionen wie den hölzernen Erkern und Balkonen von einst, hat das natürlich alles nichts mehr zu tun. Mit Bauen als Selbstvergewisserung, als Machtaccessoire und Legitimation, schon eher. Doch Georgien ist in dieser Hinsicht nicht alleine.

In der mazedonischen Hauptstadt Skopje springt man gerade unter dem Motto der Identitätsuntermauerung von der Zukunft, die Kenzo Tange in seinem Masterplan für die 1963 von einem Erdbeben zerstörte Stadt vorschwebte, und die ihr zahlreiche Prachtstücke der mutigen Moderne bescherte, mit einem Satz 2300 Jahre in die Vergangenheit und kleidet die Bauten aus Glas und Beton mit bombastischem Alexander-der-Große-Prunk neu ein. Eine fundierte Architekturkritik des neohistorisch-jenseitshistorischen Palastes des türkischen Präsidenten Erdogan steht noch aus. (Maik Novotny, 17.4.2016)