Eva Walkner: "Ich mache mir Gedanken. Aber ich glaube auch ein bisschen an Schicksal. Wenn es aus ist, ist es aus."

Foto: evawalkner.com

Eva Walkner in Aktion.

FreerideWorldTourTV

Wien – Freeride-Snowboarderin Estelle Balet ist am Dienstag bei einem Lawinenabgang in Orsières in der Schweiz ums Leben gekommen. Zu dem Unfall kam es bei Dreharbeiten für einen Film. Die Schweizerin hatte sich im April in Verbier wie die Österreicherin Eva Walkner bei den Skifahrerinnen zum zweiten Mal in Folge auf der World Tour den WM-Titel geholt.

STANDARD: Ihre Freundin Estelle Balet ist bei Dreharbeiten in einer Lawine gestorben. Konnten Sie sich bereits ein Bild von den Vorkommnissen machen?

Walkner: Estelle war mit Géraldine Fasnacht unterwegs, einer Legende des Snowboardsports. Ich bin überzeugt, dass die beiden kein ungewöhnliches Risiko eingegangen sind.

STANDARD: Aber ist ein guter Freeride-Film ohne erhöhtes Risiko überhaupt möglich?

Walkner: Bei Aufnahmen ist es ein brutal schmaler Grat. Natürlich will man einen Hang fahren, der etwas spektakulärer ist. Es muss mich mehr reizen als ein 30 Grad steiler Hang. Das oberste Ziel ist aber immer, gesund nach Hause zu kommen.

STANDARD: Fürchten Sie Lawinen?

Walkner: Ich bin 50.000 Kilometer im Jahr im Auto unterwegs, auf der Straße fühle ich mich unsicherer als am Berg. Ich war noch nie unter einer Lawine, man erlebt aber brenzlige Situationen. Mitunter kann es manchmal nicht schaden, die Grenzen aufgezeigt zu bekommen. Das holt einen wieder runter.

STANDARD: Wird die Gefahr von Lawinen in der Szene ernst genug genommen?

Walkner: Wir Freerider verbringen so gut wie jeden Tag am Berg. Jeder beschäftigt sich mit der Thematik, das gehört zu unserem täglichen Brot. Wir haben auf der World Tour jedes Jahr Schulungen. Wenn es einen Profi erwischt, geht es um die Welt, trifft es meinen Nachbarn, ist es eine Randnotiz. Profis sind im Vergleich zu Hobbyfahrern relativ sicher unterwegs.

STANDARD: Aber das Restrisiko bleibt.

Walkner: Es ist wie im Straßenverkehr, man kann sich nie ganz sicher sein. Es sind schon Skifahrer bei Lawinenwarnstufe 1 umgekommen. An Stellen, an denen man einen Abgang für unmöglich halten würde. Man kann das Risiko nur minimieren, aber nie komplett ausschalten.

STANDARD: Wie sicher sind die kontrollierten Wettbewerbe?

Walkner: Dort beobachten und befahren lokale Bergführer den Hang schon Tage zuvor. Zur Not wird auch weggesprengt. Da ist das Risiko absolut minimal. Sicherer als bei einem Contest kann man sich als Freerider nicht mehr fühlen.

STANDARD: Wo liegen die größten Gefahren in Ihrem Sport?

Walkner: Ich selbst bin für mich die geringste Gefahr. Ich weiß, was ich kann, aber auch, wo meine Grenzen liegen. Wenn ich sehe, dass der Felsen zu hoch oder der Hang zu steil ist, fahre ich nicht. Wenn ich mich entschließe zu fahren, geht es meistens auch gut. Die äußeren Gefahren sind schwer zu kontrollieren, das macht mir mehr Angst.

STANDARD: 2007 sind Sie schwer gestürzt. Fünf Rippenbrüche, kollabierte Lunge, Milz und Niere gerissen.

Walkner: Ich bin damals auf einen eingeschneiten Stein gefahren, wir nennen sie "Sharks". Das war kein Fahrfehler, das war einfach Pech. Eben eine dieser äußeren Gefahren.

STANDARD: Und trotz der schweren Verletzungen sind Sie zurückgekehrt. Sie sollen einmal von sich gesagt haben, Sie brauchen das Adrenalin.

Walkner: Ja, das wurde geschrieben. Das stimmt aber nicht, reißerischer Boulevard. Todesmutig und so weiter, alles Klischees. Ich habe Spaß am Skifahren, ich bin gerne in den Bergen. Es sind Glücksgefühle.

STANDARD: Aber Berge und Skifahren lassen sich auch ohne Risiko genießen.

Walkner: Wenn ich an Wettkämpfen teilnehme, möchte ich auch gewinnen. Und dafür muss ich auch ein gewisses Risiko eingehen. Wie in jedem anderen Profisport. Mein Bruder Matthias muss bei der Dakar auch mit 160 Sachen durch die Wüste pressen. Das ist gefährlich, das kann man nicht beschönigen. Ein kaputtes Kreuzband ist für mich aber keine Tragik mehr.

STANDARD: Sie waren kurzfristig auch im alpinen Skiweltcup zu sehen. Wie fällt der Vergleich zum Freeriden aus?

Walkner: Ich habe es am Anfang nicht verstanden, als ich aufhören musste. Es war eine schwere Zeit. Heute bin ich froh, dass es so gekommen bist. Ich bin nicht gerne auf der Piste unterwegs. In den Bergen lerne ich jeden Tag dazu, es ist jeden Tag etwas anderes, fernab von Menschenmassen. Ich habe etwas gefunden, das mich glücklich macht.

STANDARD: Verändert der Tod von Estelle Balet Ihren Blick auf den Sport?

Walkner: Manche sagen vielleicht, das ist "part of the game", das ist das Risiko, und Punkt. Das stimmt zwar, aber an mir geht das nicht ganz spurlos vorbei. Ich mache mir Gedanken. Aber ich glaube auch ein bisschen an Schicksal. Wenn es aus ist, ist es aus. Die einen werden schwerkrank, die anderen haben einen Autounfall, und manche sterben in einer Lawine.

STANDARD: Sie nehmen also auch die kommende Saison auf der Tour in Angriff?

Walkner: Estelle hat mich heuer in Verbier motiviert, noch ein Jahr anzuhängen. Wir waren beide Freeride-Weltmeisterinnen 2015 und 2016. Sie sagte "Jamais deux sans trois", also alle guten Dinge sind drei. Ich möchte jetzt versuchen, diesen dritten Titel zu holen.

STANDARD: Gedanken an einen Rücktritt sind Ihnen nicht gekommen?

Walkner: Estelle war eine gute Freundin auf der Tour, es tut mir weh, aber wenn ich jetzt mit meiner Leidenschaft aufhöre, wem ist dann geholfen? Was bringt es, wenn ich mich jetzt in ein Büro setze und dort unglücklich bin?

STANDARD: Ihr Bruder bei der Dakar, Sie in den Bergen – wie geht es Ihren Eltern?

Walkner: Für meine Mutter ist es nicht einfach. Sie unterstützt uns. Aber dieser Tage meinte sie, ich solle es bitte bleiben lassen. Ich verstehe ihre Sorgen, aber was soll ich machen? Ich muss mein eigenes Leben führen. (Philip Bauer, 22.4.2016)