Demonstrationen vor dem Parlament in Skopje.

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"Patsch". Am Montag waren die Statuen vor dem Außenministerium dran. Ein bisschen Blau, Rot, Grün und Orange. Immer wenn die Farbbeutel auf den Statuen zerplatzen und die Farbe an den mazedonischen Helden herunterrinnt, johlt die Menge. "Es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit", skandieren sie. Seit zwei Wochen marschieren täglich ab 18 Uhr tausende Mazedonier durch ihre Hauptstadt und fordern den Rücktritt der Regierung, mehr Demokratie, Prozesse gegen korrupte Politiker, einen Neuanfang. "Nikola, du entkommst Shutka nicht", rufen einige junge Männer. Shutka ist ein Ort unweit von Skopje, wo das wichtigste Gefängnis des Landes steht. Mit Nikola ist Herr Gruevski gemeint, der seit als 2008 Premierminister fungiert und Chef der nationalkonservativen VMRO-DPMNE ist.

Am Montag, nachdem in der Früh zwei Oppositionspolitiker, Zdravko Saveski und Vladimir Kunovski von der Partei "Die Linke" verhaftet, verhört und dann unter Hausarrest gestellt wurden, ist die Stimmung unter den Demonstranten etwas aufgeheizter. "Das ist eine Botschaft, dass sie jetzt mehr Politiker verhaften werden", denkt Branimir Jovanović.

"Was für eine Ironie: Wenn man Leute ausspioniert, Wahlbetrug begeht und politische Rivalen festnimmt, wird man vom Präsidenten begnadigt. Wenn man dagegen protestiert, endet man im Arrest", bezieht sich der Aktivist auf die Amnestie für 56 korruptionsverdächtige Politiker und ihre Mitarbeiter, die Präsident Gjorge Ivanov vor zwei Wochen erlassen hat. "Man kann einige Blumen abbrechen, aber nicht verhindern, dass der Frühling kommt", macht Jovanović jedoch Mut.

Demonstranten als "Vandalen" dargestellt

In den regierungsnahen Medien werden Demonstranten wie Jovanović als "Vandalen" dargestellt, die Farbbeutel werden zu Steinen "umgedeutet". In den vergangenen Jahren sind hier ohnehin "Parallelwelten" entstanden. Es ist so, als gäbe es zwei Mazedonien, die wenig miteinander zu tun haben. Es gibt die Mazedonier, die sich über die vielen Statuen und Tempelchen und klassizistischen Fassaden freuen, die in den vergangenen Jahren in der Hauptstadt gebaut wurden, sie mögen die bombastische Musik, die überall aus Lautsprechern ertönt. Sie leben den Traum einer großen Nation, wie sie die nationalkonservative VMRO mit ihrer Interpretation der Geschichte geschaffen hat.

Die anderen Mazedonier, die nicht die Regierungsmedien lesen und ihnen schon lange keinerlei Glauben mehr schenken, werfen Farbbeutel auf die Löwen-Statuen, die auf der Autobrücke über dem Vardar stehen, sie werfen Farbbeutel auf den Sitz des Präsidenten, weil er die Justiz mit Füßen trat. Sie wollen eine "farbige Revolution" in Anlehnung an die Revolutionen in Osteuropa. Ihr Erkennungszeichen ist die Faust, wie sie bereits bei den Protesten gegen Milošević im Jahr 2000 auftauchte, und die Trillerpfeife. Das Dröhnen aus diversen Tröten begleitet die Proteste durch die Stadt.

Dünne Mittelschicht

Die meisten der Leute, die hier auf die Straße gehen, sind keine Anhänger der oppositionellen Sozialdemokraten, sondern Leute aus der dünnen Mittel-Klasse-Schicht, die ökonomisch und mental trotz der Dominanz der Regierungspartei und der Armut eine gewisse Unabhängigkeit bewahrt haben. Es gibt auch vereinzelt Albaner unter den Demonstranten. Doch die Albaner – etwa ein Viertel der Bevölkerung – sehen den aktuellen Machtkampf zwischen Opposition und Regierung hauptsächlich als eine Angelegenheit zwischen den slawischen Mazedoniern.

"Wir wollen, dass diese Verbrecher vor Gericht kommen", sagt eine junge Demonstrantin, die die regennassen Haare unter ihrer Kapuze zurechtstreicht. Gemeint sind die Politiker – insbesondere der Regierungspartei VMRO-DPMNE, gegen die wegen Amtsmissbrauchs, Interessenkonflikten oder Wahlbetrug ermittelt wird.

Ikone der Demonstranten

Die Ikone der Protestbewegung ist Fatime Fetai, einer der drei Sonderstaatsanwältinnen, die die Ermittlungen führen. Manche der Demonstranten tragen ihr Abbild auf ihren T-Shirts, andere haben Poster von ihr in der Hand. Die drei Sonderstaatsanwältinnen gelten unter den Demonstranten als Heldinnen. Allerdings könnte es für sie auch problematisch werden, wenn sie sich zu sehr in das politische Spiel hineinbegeben.

Und wie soll es jetzt weitergehen? "Ich denke, dass sich die vier Parteiführer wohl wieder zusammensetzen werden und irgendeine Lösung ausverhandeln werden", denkt Jovanović. Die letzte Verhandlungsrunde mit EU-Kommissar Johannes Hahn, drei EU-Parlamentariern und dem US- und dem EU-Botschafter ist daran gescheitert, dass die Sozialdemokraten (SDSM) zwei Forderungen aufgestellt hatten, die die VMRO nicht erfüllt hatte.

Forderungen

Erstens sollen die Wahlen, die für 5. Juni geplant waren, verschoben werden. Der Punkt ist tatsächlich sehr umstritten, denn schließlich hatten sich alle vier Parteien darauf geeinigt. An den 5. Juni als Wahltermin glaubt aber kaum mehr jemand, seit der Präsident mit seiner Amnestie die Situation hat eskalieren lassen. Die zweite Forderung lautet, dass der Präsident die Amnestie zurücknimmt.

Dieser Punkt ist noch schwieriger. Gjorge Ivanov ruft mittlerweile selbst alle Amnestierten auf, die sich um ihr Recht auf ein Gerichtsverfahren gebracht fühlen und "ihre Unschuld vor einem Gericht prüfen lassen wollen", eine schriftliche Anforderung zu schreiben, um die Amnestie für nichtig zu erklären. Nicht nur die EU-Kommission, sondern auch der offensichtlich konfus agierende Präsident suchen nach legalen Möglichkeiten, die Amnestie rückgängig zu machen.

Strafverfolgung

Doch das ist eigentlich unrealistisch, obwohl die Entscheidung selbst rechtlich hoch problematisch ist. Wie der Rechtsprofessor Gordan Kalajdziev erklärt, "ist es rechtlich nicht möglich, dass die Strafverfolgung nach dieser Amnestie wieder aufgenommen wird". Die einzige Möglichkeit ist, dass die 56 Politiker und Mitarbeiter selbst nach einem Verfahren vor Gericht verlangen. Allerdings gilt auch dann die Amnestie.

Zu Strafen könnte es höchstens kommen, wenn es zivilrechtlich Nebenkläger gäbe, die geschädigt wurden. Eine andere legale Möglichkeit sei noch, dass man illegal erworbenes Vermögen im Zusammenhang mit den nun pardonierten Fälle konfisziere, so Kalajdziev, der auch Präsident des mazedonischen Helsinki-Komitees ist.

Quelle unklar

Unklar ist auch, woher der Präsident überhaupt wusste, gegen wen strafrechtlich ermittelt wird. Denn die Sonderstaatsanwaltschaft gab diese Informationen nicht preis. Offensichtlich spielten die Anwälte dabei eine Rolle. Der Coup mit der Amnestie war also in jeder Hinsicht gut ausgetüftelt – auch wenn es darum geht, Ivanov selbst rechtlich dafür verantwortlich zu machen, dass er die Grenzen seiner Kompetenzen überschritt.

Der Präsident erließ die Amnestie nämlich zu einem Zeitpunkt, als das Parlament bereits aufgelöst wurde. Und rechtlich gibt es keine Möglichkeit, das Parlament vor den Wahlen wieder tagen zu lassen. Ohne Parlament gibt es aber kein Amtsenthebungsverfahren. Zusätzlich ist der Verfassungsgerichtshof unter der Kontrolle der VMRO-DPMNE, und ohne Verfassungsgerichtshof ist eine Amtsenthebung auch nicht möglich.

Amnestie schaffte Atempause

Die strafrechtlich verdächtigen Vertreter der Regierungspartei scheinen auch nicht sonderlich besorgt zu sein. Das hat Gründe: Erstens hat die Amnestie ihnen jetzt Zeit verschafft, sie müssen sich nicht vor einer kurz bevorstehenden Strafverfolgung fürchten. Zweitens können sie darauf vertrauen, dass ein großer Teil der Mazedonier nach wie vor hinter ihnen steht, allein schon deshalb, weil viele die Jobs in der Verwaltung der VMRO-DPMNE zu verdanken haben. Zudem hat der engste Kreis rund um Gruevski nicht nur gute Beziehungen zu Entscheidungsträgern im Inland.

Als der Exgeheimdienstchef Sašo Mijalkov, der im Vorjahr offiziell zurücktreten musste, im Oktober auf dem Belgrader Flughafen mit einer Waffe angetroffen wurde und deshalb nicht weiterreisen durfte, wurde gemunkelt, dass er jederzeit in Kroatien aufgenommen werden würde. Mijalkov ist übrigens der Cousin von Gruevski.

Und letztlich ist die Opposition – obwohl sie offiziell nach Verhandlungen mit der EU einige Minister stellt – ziemlich machtlos. Denn die Ministerien wurden in der Zwischenzeit von der VMRO-DPMNE wieder "zurückerobert". Die Entscheidungen der SDSM-Minister wurden für nichtig erklärt, und die Beamte folgen den Anweisungen dieser Minister nicht. Die Kontrolle liegt also wieder zum größten Teil bei der VMRO-DPMNE und ihrem Chef Gruevski. (Adelheid Wölfl aus Skopje, 26.4.2016)