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Sie will den großen Themen entkommen: Filmemacherin Athina Rachel Tsangari.

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Wer ist am schnellsten beim Zusammenbauen eines Ikea-Regals? Mit einer Reihe an Wettkämpfen der eher profaneren Art wird in Athina Rachel Tsangaris Film "Chevalier" der beste Mann an Bord bestimmt – ein Sinnbild für Konkurrenzdenken mit komischer Schlagseite.

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Es ist ein paradoxes Phänomen, das sich von Zeit zu Zeit wiederholt. Die desolate Lage eines Landes scheint sich auf sein Filmschaffen besonders produktiv auszuwirken. Eine jüngere Generation von Filmemachern hat dem griechischen Kino in den letzten Jahren mit trotzigem Selbstverständnis neuen Schwung verliehen. Selten befassen sich ihre Filme direkt mit der Krise im eigenen Land, meist suchen sie nach einer freieren Erzählform, in der sich gesellschaftliche Rollenmuster und soziale Defekte verdichten. Zur Kenntlichkeit entstellt, sozusagen.

Eine besonders prononcierte Vertreterin ist Athina Rachel Tsangari, die nach dem erfolgreichen Film "Attenberg" (2011) nun mit "Chevalier" eine Komödie über eine Abart des Hahnenkampfs vorlegt. Sie begleitet eine Gruppe von Männern, die sich im Winter auf einer Yacht verschanzen, um sich einem Spiel zu widmen: Wer ist in allem der Beste? Von der Erektionsdauer bis zum Ikea-Kastl-Aufstellen – die Disziplinen sind exzentrisch.

STANDARD: "Chevalier" funktioniert wie ein Experiment. Anstatt ein paar Ratten in einem Käfig zuzuschauen, blickt man auf eine Gruppe Männer auf einer Yacht. Hatten Sie an eine Verhaltensstudie über die Spezies Mann gedacht, als Sie mit der Arbeit begannen?

Athina Rachel Tsangari: Es hat wohl einfach damit zu tun, dass ich Männer liebe und dass sie schon immer meine besten Freunde waren. Ich fühle mich bei Männern sicherer als bei Frauen. Sie sind Kumpels. Wobei ich Liebhaber von Kumpels meist schwer unterscheiden kann.

STANDARD: Das heißt, der Film entstand aus einer privilegierten Position heraus?

Tsangari: Wenn man mit Männern aufwächst, kennt man einige dieser typischen Verhaltensmuster. Zugleich geht es aber auch mit einer Demystifizierung von Klischees einher. Mir sind all diese kleinen Dinge im Verhalten wichtig, die man in Filmen selten sieht. Ich wollte ihn unbedingt in Zusammenarbeit mit Männern durchführen. Es basiert ja auf einem Drehbuch, das auf die Persönlichkeiten der Schauspieler Rücksicht nahm. Sie haben alle ihre Neurosen, Ängste und Ticks in das Skript einfließen lassen.

STANDARD: Bei den Wettbewerben denkt man natürlich auch an die Ökonomie. Verstehen Sie den Film auch als Auseinandersetzung mit der Krise in Griechenland?

Tsangari: Das steckt bestimmt drinnen. Aber ich versuche mich mit Erklärungen über politische Lesarten zurückzuhalten. Wenn ich nicht die letzten vier Jahre in Griechenland gewesen wäre, hätte ich den Film wohl nicht gemacht. Aber ich hatte nie vor, einen Film "über die Krise" zu machen. Oder darüber, wie korrupt die Männer dieses Landes, ja ganz Europas sind. Das Wetteifern der Egos ist aber keine rein männliche Angelegenheit. Ich habe mehr an einen Ritterorden gedacht. Die Frage war, was es bedeutet, ein Ritter im 21. Jahrhundert zu sein.

STANDARD: War das auch der Auftrag für Drehbuchautor Efthimis Filippou? Er ist ja versiert in Gesellschaftsparabeln wie zuletzt "The Lobster".

Tsangari: Filippou interessiert sich nicht sehr für Plots. Es war das erste Mal, dass ich beim Drehbuch mit jemandem zusammengearbeitet habe. Wir sind sehr unterschiedlich. Mir ging es um das Hin- und Herwälzen von Ideen. Wir waren uns einig, dass der Film ganz ohne Frauen ablaufen muss, damit es keine Verwirrung unter der männlichen Spezies gibt.

STANDARD: Die Männer würden sonst um die Frau buhlen ...

Tsangari: Es ist letztlich egal, ob es eine Frau, eine Katze, ein kleiner Roboter oder ein Auto ist. Nichts durfte die Männer davon ablenken, dass sie um etwas anderes als um sich selbst kämpfen. Es ist eine Situation, in der man eigentlich nur verlieren kann: Sie müssen sich nur mit ihren besten Freunden in einem geschlossenen Raum einfinden, nach ein paar Tagen fallen sie übereinander her. Die wahre Seite der Dinge kommt zum Vorschein. Wir haben festgehalten, dass die Regeln für die einzelnen Spiele verborgen bleiben müssen. Es muss sich um ein Spiel handeln, das wir jeden Tag spielen. Und zwar alle von uns, nonstop.

STANDARD: Ein Spiel, das Leben heißt?

Tsangari: Ja, denn wir sind darauf programmiert. Wir checken uns ständig gegenseitig aus und führen Evaluierungen durch, vergeben Punkte. Alles sollte ganz natürlich sein. Es ist wie die Variante eines Brettspiels, wie Monopoly. Ich habe mit den Schauspielern paarweise geprobt. Auf diese Weise sind Beziehungen entstanden. Am Anfang war es für sie absolut beängstigend.

STANDARD: Sie haben Leute aus ganz unterschiedlichen Bereichen gecastet. Mit Sakis Rouvas ist auch ein griechischer Popstar dabei. Warum diese heterogene Auswahl?

Tsangari: Ich habe selbstbewusste Männer mit unterschiedlichen Backgrounds gesucht. Am Anfang habe ich überall gesucht, da es in Griechenland oft schwierig ist, mit Schauspielern zu arbeiten, weil sie meist am Theater ausgebildet sind. Für mich sind jedoch alle Performer. Yiorgos Kendros, der Schauspieler, der den Arzt spielt, ist ein bekannter Theaterschauspieler, der noch nie einen Film gedreht hat. Er hat dem Kameramann gestanden, dass er mich umbringen wollte. Er träumte davon, mich zu erwürgen.

STANDARD: Er muss doch an Proben gewöhnt sein!

Tsangari: Er fragte immer nach. Etwa, welchen Hintergrund seine Figur hat. Ich arbeite aber nicht mit solchen Informationen. In Griechenland liebt man das Reden, über alltägliche bis zu sehr philosophischen Dingen. Wenn Sie in die Cafés schauen, würden Sie nie glauben, dass sich das Land in einer Krise befindet. Sie sind zum Bersten voll mit Leuten, die über alles etwas zu sagen haben, aber wenig tun. Mir geht es darum, dass die Leute so lange weitermachen, bis etwas von allein aus ihnen herauskommt. Nach zehn Tagen hat Yiorgos aufgehört, Fragen zu stellen, und entspannte sich.

STANDARD: Einfach so – oder mit Ihrem Zutun?

Tsangari: Ich sagte ihm, er solle sich vorstellen, dass wir ein Musical proben, das nur aus Sprache besteht. Die Stimmen sind die Instrumente.

STANDARD: Wann weiß man dann, dass man das Ziel erreicht hat?

Tsangari: Wenn man das Denken aufgibt und etwas Körperliches passiert. Der Körper performt von selbst – fast wie beim Sport.

STANDARD: Wie gaben Sie den Männern genug Raum? Sie haben ja auf einer richtigen Yacht gedreht.

Tsangari: Wir haben uns für Sliders entschieden, kleine Wagen, mit denen wir das Geschehen umkreisen konnten. Ich wollte das menschliche Gesicht zeigen, ohne ständig nur Schuss-Gegenschuss zu filmen. Ich habe auch noch nie einen Film mit so viel Dialog gemacht. Es sollte nonstop geredet werden, wie in einer Screwball-Komödie. Ich liebe Screwball!

STANDARD: Apropos: Woher kommt eigentlich Ihre Affinität zur Komödie?

Tsangari: Ich habe mich als Regisseurin nie zu schweren Dramen hingezogen gefühlt. Das ist wohl auch das Verbindende unserer Generation. Wir versuchen den großen Themen zu entkommen. Wir waren zynisch. Wir hatten die Nase voll. Und natürlich gibt es auch Traditionen. Diese Idee von Ironie hat schon zur modernistischen griechischen Literatur gehört. Giorgos Seferis schrieb etwa kühl, fast distanziert und verfügte über sehr feine Ironie. Er war in seiner Lyrik immer einen Schritt vom Realismus entfernt. Auch mir geht es darum, über bestimmte Themen zu sprechen, aber niemals direkt, nur von der Seite.

STANDARD: Oft geht es um soziale Beziehungen oder deren Ersatz.

Tsangari: Das ist ein ständiges Thema unserer Generation. Die Familie. Wie entkommt man ihr, wie formt man sie? Das ist auch noch bei "Chevalier" so. Vielleicht ist es besser, sich gegenseitig aufzufressen, als in bestimmte vorbestimmte Rollen zurückzukehren. (Dominik Kamalzadeh, 1.5.2016)