Die erste Runde der Präsidentschaftswahl ist geschlagen. In der Stichwahl am 22. Mai kommt es zum Duell zwischen Norbert Hofer und Alexander Van der Bellen. Und wie schon in der ersten werden auch in der zweiten Runde knapp eine Million Einwohner Österreichs von der Wahl ausgeschlossen sein. Das sind knapp 13 Prozent der Bevölkerung.

"In Wien ist die Situation noch dramatischer, da ist jeder vierte Wiener, jede vierte Wienerin über 16 Jahren nicht berechtigt, zur Wahl zu gehen", sagt die Geschäftsführerin der Wiener Jugendzentren, Gabriele Langer. Das sind mehr als 380.000 Wiener, also mehr als Linz und Salzburg zusammen Einwohner haben. Die Zahl jener, die in Wien ihren Hauptwohnsitz haben, aber nicht wählen dürfen wächst: Im Jahr 2013 lebten in Wien noch 335.000 nicht-wahlberechtigte Personen.

Steigende Zahl nicht wahlberechtigter Personen

"In den Jugendzentren beschäftigen wir uns schon lange mit politischer Bildung und Partizipation – verstärkt seit der Wahlaltersenkung. Viele der Jugendlichen, die zu uns kommen, zeigen zwar reges Interesse an der Politik, aber eine zunehmende Zahl von ihnen darf nicht wählen", sagt Langer. Um auf das Problem hinzuweisen, haben die Wiener Jugendzentren im vergangenen Jahr die #InitiativeWahlrecht gestartet und heuer kurz vor der Präsidentenwahl ein Erklärvideo veröffentlicht, in dem für eine Änderung des Staatsbürgerschafts- und Wahlrechts geworben wird.

Verein Wiener Jugendzentren

Restriktives Staatsbürgerschaftsrecht

Auch der Politikwissenschaftler Gerd Valchars von der Universität Wien sieht Reformbedarf. "Österreich hat ein sehr restriktives Staatbürgerschaftsrecht, eines der restriktivsten in ganz Europa. Und das sowohl für den Erwerb der Staatsbürgerschaft für Personen, die nach Österreich zuwandern, als auch für die zweite Generation, die hier geboren ist."

Das bestätigt auch der Migrant Integration Policy Index (Mipex). Dieser vergleicht nationale Integrationspolitiken und bescheinigt Österreich in der vierten Auflage aus dem Jahr 2015 einen Reformbedarf hinsichtlich eines einfacheren Zugangs zur Staatsbürgerschaft und mehr politischer Partizipationsmöglichkeiten für Migrantinnen und Migranten.

Populistische Diskussion über Migration

Österreich sei in Sachen Staatsbürgerschaftsrecht auch früher nicht liberal gewesen, sagt Valchars. Im Lauf der letzten Jahre und Jahrzehnte hat sich Österreich aber noch deutlich vom europäischen Durchschnitt entfernt. Ein Grund sei sicher auch, dass über Migration und Integration in Österreich populistisch diskutiert werde und der "Eindruck besteht, dass man Wählerinnen und Wähler eher mit restriktiven Maßnahmen gewinnen kann". Für das Einwanderungsland Österreich sei das aber "eher kontraproduktiv, da dadurch immer größere Teile der Bevölkerung politisch isoliert werden", erklärt der Politikwissenschaftler.

Indirektes Zensuswahlrecht

"Die Kriterien für die Einbürgerung gehören überdacht", sagt Gabriele Langer. "Aufgrund des hohen Mindesteinkommens, das für eine Staatsbürgerschaft nötig ist, können etwa 30 bis 40 Prozent der Arbeiter und 60 bis 70 Prozent der Arbeiterinnen in Österreich die Kriterien für eine Einbürgerung nicht erfüllen", kritisiert die Geschäftsführerin der Wiener Jugendzentren.

Für Gerd Valchars hat Österreich dadurch "ein indirektes Zensuswahlrecht, da vielen aufgrund finanzieller Hürden die Erlangung der Staatsbürgerschaft und damit auch das Wahlrecht verwehrt wird".

Ius soli vs. ius sanguinis

Reformbedürftig ist aber nicht nur die geforderte Höhe des Mindesteinkommens. Auch eine Verkürzung der Mindestaufenthaltsdauer – derzeit zehn Jahre – wird sowohl von Valchars als auch von den Wiener Jugendzentren gefordert.

Zusätzlich empfehlen sie, das derzeit geltende Abstammungsprinzip zu überdenken, wonach Kinder von Migrantinnen und Migranten die Staatsbürgerschaft ihrer Eltern erhalten (ius sanguinis) und nicht jene ihres Geburtslandes (ius soli). "Es gibt mehrere Modelle, wie das ius sanguinis durch ein ius soli ergänzt werden kann", sagt Valchars. "Kinder könnten beispielsweise gleich bei ihrer Geburt die österreichische Staatsbürgerschaft erhalten, wenn zumindest ein Elternteil seit mehreren Jahren in Österreich lebt und einen dauerhaften Aufenthaltstitel hat."

Identifikation erleichtern

Alleine in Wien sind rund 38.000 Jugendliche und junge Erwachsene von der Wahl ausgeschlossen. Für viele erschwert das das Gefühl, ein Teil der Gesellschaft zu sein. "Eine Erleichterung der Einbürgerung würde auch den Integrationsprozess erleichtern und den Kindern das Gefühl geben, hier zugehörig zu sein", sagt Langer. (Siniša Puktalović, 2.5.2016)