"Ich wollte für mich wohnen", sagt Josef T. in seinem Zimmer in einer WG der Lebenshilfe Wien.

Foto: Robert Newald

Wien – Von Fotos an der Wand lächelt ein jüngeres Selbst von Josef T. herunter: brauner Seitenscheitel, Brille, rote Backen. Da und dort sitzt er in geselliger Runde. So gern sich Josef "Joschi" T. unter die Leute mischt, so sehr schätzt er den Rückzug. "Ich wollte für mich wohnen. Da hat man seine Ruhe", sagt der 60-Jährige. Seit zehn Jahren lebt er in einer Zweier-WG in Wien-Meidling. Ein schmaler Gang führt vorbei am Zimmer seines Mitbewohners, an Bad, Küche und Esszimmer, bis zu T.s eigenen vier Wänden: samtiges Sofa, bequemer Lederfernsehsessel, Bett, Schreibtisch und einige Regalmeter Musik-CDs.

Die WG wird von der Lebenshilfe betreut, die Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung unterstützt. Der Verein will zum Tag der Inklusion (5. Mai) an das Recht auf selbstbestimmtes Wohnen erinnern.

Großeinrichtungen abbauen

In ihrer Koalitionsvereinbarung hat die österreichische Bundesregierung das Ziel formuliert, Menschen mit Behinderungen ein "selbstbestimmtes Leben im Sinne der UN-Konvention zu ermöglichen" und dafür Großeinrichtungen abzubauen und alternative Unterstützungsleistungen zu entwickeln. Allerdings liegt die Umsetzung bei den Ländern. In einigen Bundesländern fehlt laut Lebenshilfe noch "die dringend nötige Finanzierung kleiner Wohnformen sowie der individuell notwendigen Assistenz". Lebenshilfe-Generalsekretär Albert Brandstätter fordert auf Bundesebene mehr Mittel und einen Inklusionsfonds – ähnlich dem Pflegefonds.

Teilbetreut seit 30 Jahren

In Wien betreibt die Lebenshilfe zwei Stützpunkte – beide im zwölften Bezirk -, von denen aus derzeit 26 Personen in nahegelegenen WGs und Einzelwohnungen von Betreuern unterstützt werden können. Seit genau 30 Jahren bietet der Verein dieses selbstständige Wohnen mit Assistenz an. Trotzdem sind noch deutlich mehr – rund 180 Personen – in Wien vollbetreut. Österreichweit versorgt die Lebenshilfe rund 2500 Personen voll und etwa 800 im Teilzeit- und Assistenzmodell.

Der Fonds Soziales Wien (FSW) hat zur Betreuungssituation speziell von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung keine Zahlen parat, sehr wohl aber von Menschen mit Behinderung im Allgemeinen. Demnach waren im Jahr 2010 rund 1360 Personen teilbetreut. Voriges Jahr waren es bereits rund 600 mehr – und damit fast genau gleich viele wie im vollbetreuten Wohnen (1940).

"Erkennen von Gefahren"

Voraussetzung für selbstständigeres Wohnen sind laut Karin Rathgeb, die den Bereich Wohnen bei der Lebenshilfe leitet, "ein Erkennen von Gefahren und eine gewisse zeitliche und räumliche Orientierung". Auch eine weitgehend barrierefreie Umgebung ist wichtig.

Vor der Zweier-WG bewohnte T. eine größere Lebenshilfe-Einrichtung. Er hat auch eine Sehbehinderung und erleidet immer wieder epileptische Anfälle. Dank einer intelligenten Matratze, die bei der Rettung einen Notruf auslösen kann, sowie eines Notfallknopfs am Handgelenk kann er trotzdem selbstständiger leben.

Haushalt und Finanzen

Bei dem, was nicht allein von der Hand geht, assistiert ihm Anita Schüller-Coleman. Die Betreuerin unterstützt T. im Haushalt, bei finanziellen Fragen, begleitet ihn zu wichtigen Terminen und kocht auch mal Suppe, wenn er krank im Bett liegt. T. besucht seine Betreuerin wiederum im sogenannten Stützpunkt, wo Treffen mit weiteren Lebenshilfe-WG-Bewohnern sowie Feste stattfinden.

Andreas S. hat dort vor kurzem seinen 29. Geburtstag gefeiert. Auf sein größtes Geschenk muss der begeisterte Percussionist und DJ, der einmal monatlich im Jugendzentrum Erdberg auflegt, noch bis zum Sommer warten: Dann bezieht er seine eigene Wohnung. Gepackt hat er das meiste schon. Derzeit lebt der blonde Tausendsassa noch in einer Zweier-WG. "Ich wollte selbstständig sein", sagt S. Sein bisheriger Mitbewohner wird sein Nachbar. Eine Assistenz betreut die beiden weiterhin.

Andreas S. und Josef T. sind wochentags in einer Werkstätte tätig – wie insgesamt rund 24.000 Menschen mit Behinderung laut Behindertenanwaltschaft in Österreich. Sie sind dabei nicht sozialversichert – ein Punkt, der seit Jahren ebenfalls für Kritik sorgt.

Gefahr der Vereinsamung

Allein zu wohnen kann zu Vereinsamung und Verwahrlosung führen. "Wir versuchen, dem mit Angeboten entgegenzutreten", sagt Anita Schüller-Coleman. Das kann Theaterspielen sein, wie bei Josef T., der derzeit einen Straßenbahnschaffner mimt. Auch Ausflüge und Workshops werden angeboten.

Bereichsleiterin Rathgeb erzählt, dass so mancher nach einer Weile auch herausfand, "dass die eigene Wohnung gar nicht die ideale Wohnform für ihn ist". Es sei aber auch passiert, dass einzelne Klienten irgendwann ganz ohne Betreuung auskamen. "Das ist aber kein zwingendes Ziel", hält Rathgeb fest. Das Ziel sei schlicht, die Wahl zu haben. (Gudrun Springer, 3.5.2016)