STANDARD: In Ihrem Buch fordern Sie eine "neue christliche Tierethik". Wo besteht Ihrer Meinung nach Nachholbedarf?
Remele: Es bedarf einer Neubesinnung auf die tierfreundlichen Traditionen im Christentum: Franz von Assisi ist der bekannteste christliche Anwalt der Tiere, aber es gibt eine Menge anderer, von denen man bisher zu wenig weiß. Die vegetarische Bewegung im viktorianischen England des 19. Jahrhunderts und die Bewegung gegen Tierversuche waren ebenfalls stark christlich geprägt.
STANDARD: Durch die Bibel habe Gott laut christlicher Lehre "die Lizenz zum Töten" erteilt: "Ich setze euch über die Fische im Meer, die Vögel in der Luft und alle Tiere, die auf der Erde leben." Handelt es sich dabei um einen Irrweg?
Remele: Wenn eine einzige Bibelstelle, die auf eine konkrete Situation bezogen ist und vor dem Hintergrund ganz bestimmter historischer Verhältnisse entstanden ist, zu einer ewig gültigen ethischen Norm erhoben wird, handelt es sich dabei im Allgemeinen um einen theologisch-ethischen Irrweg. Der Herrschafts- oder Unterwerfungsbefehl aus dem Buch Genesis, den Sie hier zitieren, ist zu einer Zeit entstanden, als die meisten Menschen sich berechtigterweise noch vor sogenannten wilden Tieren fürchteten. Heute sieht das – zumindest bei uns – ganz anders aus.
STANDARD: Ist es überhaupt noch legitim, sich bei dem Thema an einem Werk zu orientieren, das vor dem Zeitalter der Massentierhaltung entstanden ist?
Remele: Die Bibel ist eine Sammlung von zahlreichen Texten verschiedener literarischer Gattungen aus unterschiedlichen vergangenen Zeitepochen. Ihre sachkundige Auslegung und ihre Vermittlung in die Gegenwart bedingen hermeneutische Kompetenz. Will man nicht in einen Fundamentalismus verfallen, wird man anerkennen müssen, dass ein ernstzunehmender Umgang mit der Bibel ein entsprechendes Niveau der Komplexität nicht unterbieten darf. Vor diesem Hintergrund aber behalten bestimmte theologische Grundorientierungen neue Relevanz: Das am Anfang der Bibel festgehaltene Urteil Gottes, seine gesamte Schöpfung sei "sehr gut", gilt heute noch.
STANDARD: Sie haben auch die Nähe von Jesus zu Tieren herausgearbeitet. Was ist Ihnen dabei aufgefallen?
Remele: Nach dem Evangelium des Markus lebte Jesus vor Beginn seines öffentlichen Auftretens "bei den wilden Tieren". Jesus verkündete zudem, dass sich Gottes fürsorgende Vorsehung auch auf Tiere erstrecke. Die Rettung eines in den Brunnen gefallenen Ochsen oder eines in die Grube gefallenen Schafes hat nach Jesus Vorrang vor der Einhaltung des Gebotes der Sabbatheiligung.
STANDARD: Die zweite Enzyklika von Papst Franziskus, "Laudato si'" beschäftigt sich mit Umwelt- und Klimaschutz. Sehen Sie hier Impulse für ein Umdenken?
Remele: Noch kein Papst hat so deutlich sowohl den Eigenwert jedes einzelnen Geschöpfes, den "Vorrang des Seins vor dem Nützlichsein" als auch die Verbundenheit aller Geschöpfe miteinander betont wie dieser. Menschen- und Tierliebe bezieht er eng aufeinander: "Das Herz ist nur eines, und die gleiche Erbärmlichkeit, die dazu führt, ein Tier zu misshandeln, zeigt sich unverzüglich auch in der Beziehung zu anderen Menschen. Jegliche Grausamkeit gegenüber irgendeinem Geschöpf widerspricht der Würde des Menschen." Dem "despotischen Anthropozentrismus", der die Kirchengeschichte jahrhundertelang dominierte, setzt Papst Franziskus die Überzeugung entgegen, dass Gottes Geist in allen Geschöpfen wohne und alle an der Auferstehung Christi teilhaben werden. (july, 5.5.2016)