Ist das berühmte verkabelte Gehirn im Glastank, das alles und überall sein kann, eingesperrter oder freier, als das Gehirn, dass in einer menschlichen Hülle steckt und dessen Entfaltungsmöglichkeiten physiologisch, durch den eigenen Körper, determiniert sind? So gesehen könnten nicht Nullen und Einsen, sondern die Realität und Gegenwart selbst die so gefürchtete Matrix bilden.

Foto: The Matrix 2

Das Ende ist nah. So viel ist sicher. Muss es doch auch sein, schließlich weckte noch jede Einführung eines neuen Mediums Annihilationsängste im Menschen. Schon Wandmalereien warnten unsere Vorfahren vor den Gefahren der Wildnis und ließen sie in Höhlen verkriechen. Regime verbrannten Bücher, um das Volk vor schädlichem Einfluss zu "schützen". Und als in einem der ersten Stummfilme im Kino ein Zug auf die Kamera zuraste, machte sich das Publikum bereits drauf gefasst, überrollt zu werden.

Den Zug haben sie alle überlebt und ihre Kinder Jahre später auch noch Rock ‘n’ Roll auf Schallplatten und die Enkelkinder überstanden sogar die ersten Gewaltspiele auf dem C64 und irgendwie lebt die Angstspezies Mensch trotz der Invasion der Internettrolle heute immer noch.

Neues Medium für Pixeljunkies

Doch mit der aktuell stattfindenden Etablierung der ersten massentauglichen Virtual-Reality-Systeme (VR) steht eine Technologie ins Haus, die uns endgültig zu Pixeljunkies wandeln droht. Die uns mit Realitätsflucht lockt und im finalen Stadium dieser Entwicklung zu Sklaven computergenerierter Algorithmen macht, so die Message finsterer Scifi-Dystopien. Denn im Kern fängt die "Matrix" als Hollywoodkonstrukt eines virtuellen Gefängnisses mit den ersten VR-Geräten an.

VR definiert sich nämlich weniger durch einzelne technische Merkmale, als ein Gefühl, das es auslöst. Es lässt seine Nutzer nicht im Bewusstsein zurück, ein Medium zu konsumieren, einen Film zu sehen oder ein Buch zu lesen, sondern verleiht das Gefühl, ein Teil dieser Fiktion zu sein. Diese Empfindung, die in der Fachsprache Präsenz genannt wird, stellt sich ein, wenn die Technologie so weit fortgeschritten ist, dass man meint, in einer nicht realen Umgebung physisch präsent zu sein. Mit einer Bildschirmbrille vor den Augen wird der Sehsinn auf die virtuelle Welt übertragen, Controller verleihen einem virtuelle Hände und mit Sensoren werden die realen Bewegungen in die digitale Umgebung übersetzt.

Tennis im Wohnzimmer

So spielen wir in unserer Freizeit nicht mehr Ritter, die gegen Drachen kämpfen, sondern werden mit dem Polygonschwert in der Hand selbst zum Helden. Anstatt im Unterricht die Chinesische Mauer in Büchern zu studieren, schreiten wir auf Knopfdruck selbst auf ihr entlang und erleben sie so, wie sie in der Zeit der Fertigstellung ausgesehen hat. Und abends nach der Arbeit matchen wir uns mit Kollegen noch in einer Partie Tennis. Im Wohnzimmer. Oder machen im Cyber-Separee Liebe mit dem verreisten Partner oder jemand anderem.

Sieht man einen Moment vom Hightechzynismus ab, könnte man fast meinen, die Scifi-Optimisten und Venture-Kapitalisten hätten gute Gründe, in Aufbruchstimmung zu sein. Denn all dies sind tatsächlich Anzeichen dafür, dass sich nach dem rasanten Aufstieg des Internets der nächste Zukunftsmarkt anbahnt, der noch vor allen Untergangszenarien zunächst einmal zahlreiche Chancen birgt.

VR in jedem Haushalt

"Als Microsoft sagte, dass wir eines Tages einen PC auf jedem Schreibtisch haben werden, glaubte niemand daran. Ich gehe fest davon aus, dass es eines Tages in jedem Haushalt ein VR-System geben wird", sagt Simon Benson, Direktor der Entwicklungsabteilung für immersive Technologien bei Sony, im Interview mit dem STANDARD. Sein Team ist für die Technologien verantwortlich, die in PlayStation VR stecken, dem im Oktober erscheinenden VR-System für PS4. "Die Funktionen, die VR bietet, werden es zu einem wirklich bedeutenden Werkzeug im Alltag machen."

Benson ist mit dieser Einschätzung nicht allein. Marktforscher Superdata rechnet basierend auf aktuellen Investitionen im VR-Bereich, dass der Marktwert (Software und Hardware) bis 2020 auf über 40 Milliarden Dollar anschwellen wird.

Auf zum Metaverse

Videospiele sind als interaktivstes aller aktuellen Medien und technologiebereiter der logische Anlaufpunkt für erste VR-Unternehmungen, doch blickt man auf die langfristigen Pläne von Oculus VR, einem Tochterunternehmen von Facebook, gehen die Ambitionen weit darüber hinaus. Gründer Palmer Luckey spricht in aller Öffentlichkeit von dem letztendlichen Ziel, ein "Metaverse" erschaffen zu wollen, in dem jeder Anwender mit seinem Avatar tun und lassen kann, was ihm in den Sinn kommt.

Schon jetzt werden VR-Räume demonstriert, in denen sich über das Internet verbundene Menschen treffen und miteinander interagieren können. Was heute eine virtuelle Partie Pingpong ermöglicht, soll morgen ein virtueller Operationssaal für Chirurgen sein, die mittels VR-Technologien und Robotern Eingriffe aus der Distanz vornehmen.

Revolution in Raten

"Ja, das ultimative Ziel wäre eine Tür öffnen und in eine komplett glaubhafte Welt treten zu können, um alles zu erleben, was man sich vorstellt", sagt Benson und betont aber, dass man hier noch von der fernen Zukunft spricht. "Jetzt haben wir VR, aber das ist offensichtlich nicht alles, was es dazu braucht. Man kann die virtuelle Welt nicht riechen, man kann nicht jeden Gegenstand aufgreifen. Es hat seine Limitierungen, aber es ist ein wichtiger erster Schritt dahin."

Bis zur massenhaften Verbreitung von VR wird es den Schätzungen von IT-Vorreitern wie Facebook-Chef Mark Zuckerberg noch Jahre dauern. Und auch das isländische Studio CCP, das für VR-Raumschiffspiele wie "Eve Valkyrie" dutzende Millionen in die Entwicklung investiert, erwartet noch "fünf chaotische Jahre", bevor die VR-Revolution so richtig ins Rollen kommt.

Physische Grenzen überschreiten

Die einzelnen Elemente, von Mikrochips und handlichen, hochauflösenden Displays und Sensoren und Scanverfahren, die reale Landschaften und Lebewesen digitalisieren können, bis hin zu gigantischen Onlinenetzwerken, die es für virtuelle Welten braucht, sind heute schon weit fortgeschritten. Was man daraus macht und wie groß der gesellschaftliche Bedarf nach VR bzw. Wie groß die anfangs genannten soziokulturellen Bedenken dagegen sind, ist eine andere Frage.

Für Pioniere wie Benson schlägt eine Eigenschaft alle Gegenargumente: "Mit VR braucht es keine Vorstellungskraft mehr, um zu glauben, dass man tatsächlich in dieser virtuellen Welt ist." Der Wunsch, sich Fantasien ganz hingeben und physische Grenzen überschreiten zu können, werde größer sein, als die Skepsis davor.

Video: Ein kleiner Schritt in Richtung Matrix und Holodeck. Wir testen das VR-System HTC Vive.
WIRSPIELEN

Freies Gehirn im Glastank

Schlussendlich ist es zu einem hohen Maß eine philosophische Frage, ob wir den eines Tages virtuell lebenden Menschen als Gefangenen oder Befreiten ansehen werden. Ist das berühmte verkabelte Gehirn im Glastank, das alles und überall sein kann, eingesperrter oder freier, als das Gehirn, dass in einer menschlichen Hülle steckt und dessen Entfaltungsmöglichkeiten physiologisch, durch den eigenen Körper, determiniert sind? So gesehen könnten nicht Nullen und Einsen, sondern die Realität und Gegenwart selbst die so gefürchtete Matrix bilden. (Zsolt Wilhelm, 16.5.2016)