Viele Anwendungen, die für jeden Computerbenützer längst selbstverständlich sind, wie Messaging, Firewall oder der USB-Stick, gehen auf israelische Erfindungen zurück.

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In Israel reden wir viel über sozioökonomische Ungleichheiten, und die Hightech-Wirtschaft löst dieses Problem nicht wirklich, sondern verstärkt vielleicht sogar die Ungleichheiten", sagt Manuel Trajtenberg im STANDARD-Interview.

Der angesehene Wirtschaftsprofessor und Abgeordnete, der vor den letzten Wahlen Finanzministerkandidat der Arbeiterpartei war, gießt kaltes Wasser über den Stolz der Israelis auf ihre "Start-up Nation" – so der zum geflügelten Wort gewordene Titel des 2009 erschienenen Bestsellers von Dan Senor und Saul Singer. Die beiden versuchten zu ergründen, was den bedrängten Kleinstaat am Wüstenrand zu einer Innovationssupermacht gemacht hat.

Bei einer Investorenkonferenz im März hatte Trajtenberg die selbstbewusste israelische Start-up-Community vor den Kopf gestoßen, als er die häufigen spektakulären Exits gar als "Unglück für die israelische Wirtschaft" bezeichnete. Ist die bisher kaum hinterfragte Formel "Je mehr Start-ups, desto besser" vielleicht falsch?

Dabei wollen doch weltweit so viele vom israelischen Erfolgsmodell lernen, darunter auch österreichische Jungunternehmer. Giganten wie Intel, Google, Facebook, Apple, Microsoft oder HP haben Forschungs- und Entwicklungszentren in Israel und verleiben sich wie Staubsauger um jeweils zwei- oder dreistellige Millionenbeträge heimische Start-ups ein.

Im Jahr 2015 haben israelische Exits insgesamt fast elf Milliarden Dollar generiert. Tel Aviv wird als bestes Start-up-Ökosystem außerhalb der USA eingestuft, und an der US-Technologiebörse Nasdaq hat das winzige Israel nach den USA und China mehr Firmen gelistet als jedes andere Land.

Die Firewall kommt aus Israel

Viele Anwendungen, die für jeden Computerbenützer längst selbstverständlich sind, wie Messaging, Firewall oder der USB-Stick, gehen auf israelische Erfindungen zurück.

Als Erklärung für den Erfolg gilt die besondere geopolitische Lage: Die Isolation von den Nachbarn, die militärische Bedrohung, der Mangel an Wasser und an Rohstoffen hätten die Israelis in eine "Mentalität" des kreativen Denkens, des Improvisierens, der Risikobereitschaft, der Frechheit und der Hartnäckigkeit gezwungen – genau die Qualitäten, die man als Start-upper braucht.

Aber: "Wir haben unbemerkt eine duale Wirtschaft und eine duale Gesellschaft geschaffen", warnt Trajtenberg. Der Technologiesektor beschäftige nur rund zehn Prozent der Arbeitskräfte, den anderen Sektoren und den ärmeren Schichten kämen das durch die Start-ups herangeschaffte Kapital und Know-how nicht zugute: "Auf der einen Seite steht der unerhörte Erfolg mit hohen Gehältern, hohem Lebensstandard, der totalen Vernetzung mit der Welt, und auf der anderen Seite steht der bei weitem größte Teil der Wirtschaft, mit niedriger Produktivität und stagnierenden Gehältern".

Den Grund dafür, dass Hightech in Israel als Wachstumsmotor nicht wirklich funktioniere, ortet Trajtenberg in der "Exit-Kultur". Die israelischen Start-upper würden fast immer zu rasch verkaufen, noch ehe ihre Firma ihr Potenzial ausgeschöpft habe.

"Die Früchte werden dann von den Konglomeraten in den USA und in Europa geerntet", klagt er. "Ja, manchmal behalten sie hier ein Forschungslab und zahlen vielleicht 50 jungen Ingenieuren ein sehr schönes Gehalt – aber das sind kleine Betriebe, die nichts zur Entwicklung der israelischen Wirtschaft beitragen."

Yossi Vardi schüttelt über diese Kritik nur den Kopf. "Was soll schlecht daran sein, wenn jemand seine Firma an Intel oder Google verkauft?", fragt Israels inzwischen 74 Jahre alter Hightech-Guru, der an mehr als 80 Firmengründungen beteiligt war. "Solche Unternehmen haben in Israel 300 Forschungseinrichtungen errichtet und geben dem Land viel mehr Stabilität, als wenn man nur von der Wall Street abhängt."

Start-up-Fraktion und Start-up-Nation

Auch andere Start-up-Gründer reagierten empört bis hämisch auf Trajtenbergs Einwände. "Ich habe die Zukunft der Nation verkauft", ätzte Schachar Kaminitz, der 2012 sein Softwareentwicklungs-Start-up Worklight für 95 Millionen Dollar IBM überlassen hat. "Ich hatte viele Mitarbeiter eingestellt und habe dutzende Millionen Dollar nach Israel gebracht. Aber ich glaube, ich habe noch nicht genug Schaden angerichtet, und habe jetzt eine neue Firma gegründet."

Die Start-up-Gemeinde argumentiert, die Einbindung der Multinationalen würde in Israel Steuern abwerfen, Investoren anlocken, Brainpower fördern und die nächste Managergeneration heranbilden. Fazit: Vielleicht gehört die Zukunft der Start-up-Nation, aber die Gegenwart gehört einer Start-up-Fraktion. (Ben Segenreich aus Tel Aviv, 16.5.2016)