Die Puppenküche wurde von Lina Lippitsch zur Verfügung gestellt.

Foto: Lukas Friesenbichler

Andreas Enslin: "Als Designer muss man sich vornehmen, Menschen kennenzulernen."

Foto: Andreas Enslin

Spiegelei braten in einer Hightechküche oder am einfachen Herd?

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Der "Corso Italia" auf der Mailänder Möbelmesse "Salone Satellite" ist ein Gewurl aus Fußgängern. Von dieser Achse aus hetzen die Messebesucher – es sind täglich zigtausende – in die gigantischen Messehallen, die so manches heimische Möbelhaus glatt verschlucken könnten. Auch die Küchenmesse "Eurocucina" ist Teil dieses Megaspektakels. Der Stand, oder nennen wir es lieber das Areal von Miele, befindet sich in der Halle mit der Nummer 11. Hier werden Backrohrgriffe (sofern vorhanden) poliert und Hände geschüttelt.

Zwei Köchinnen ziehen ihre Show auf neuen Herdmodellen ab, während sich daneben japanische Messebesucher vor den Managern des deutschen Haushaltsgeräteherstellers verneigen. Natürlich darf hier Andreas Enslin, Chefdesigner des Hauses, nicht fehlen, um die Fragen ganzer Horden zu beantworten. Die für Presseangelegenheiten zuständige Dame gemahnt zur Zügigkeit. Die Interviewanfragen sind so dicht getaktet wie die vollen Busse, die zur Messe fahren. Noch klingt Andreas Enslins Stimme frisch und munter. Das wird sich im Laufe des Tages ändern.

STANDARD: Wann standen Sie zum letzten Mal selbst am Herd?

Andreas Enslin: Das war vor zwei Tagen.

STANDARD: Was gab's denn?

Enslin: Etwas Schlichtes: Spinat, Spiegeleier und Kartoffeln.

STANDARD: Männer legen heute vermehrt Hand in der Küche an. Wie sehr hat sich dadurch das Küchendesign verändert?

Enslin: Die Vorstellung, Design sei eine genderspezifische Angelegenheit, ist eine falsche. Es lässt sich nicht sagen, ob ein Design von einer Frau oder einem Mann stammt oder für das eine oder andere Geschlecht passender ist. Das klappt nicht.

STANDARD: Und doch hat sich die Gestalt der Küche sehr gewandelt.

Enslin: Das hat damit zu tun, dass das klassische Versorgungskochen wegbricht, weil es die klassische Hausfrau nicht mehr so gibt wie früher, auch wenn im Moment der Trend wieder Richtung Familie geht. Beide Geschlechter vermitteln uns heute neue Ansprüche. Das hat mit neuen Lebensmodellen zu tun. Sowohl Frauen als auch Männer verzichten gerade in Städten immer wieder auf Arbeit, um mehr Zeit für die Familie zu haben, um eine neue Lebensqualität zu generieren. Das schlägt sich auch im Küchendesign nieder.

STANDARD: Das muss man sich leisten können.

Enslin: Natürlich hat das mit Verzicht zu tun. Bei den jüngeren Menschen steht nicht mehr nur das Einkommen im Vordergrund. Das hat damit zu tun, dass wir eine entwickelte Industriegesellschaft sind, in der es eine gewisse Absicherung durch erwirtschaftete Vermögen gibt.

STANDARD: Auch der Empfänger von Notstandshilfe will kochen.

Enslin: Natürlich gibt es auch ein anderes Ende, an dem immer mehr Menschen immer weniger haben. Man muss darauf achten, wo sich die Gesellschaft hinbewegt.

STANDARD: Wo bewegt sie sich denn Ihrer Meinung nach hin?

Enslin: In Sachen Küche fällt uns zum Beispiel auf, dass immer mehr junge Menschen auf Gesundheit achten. Viele Leute ziehen sich Obst und Gemüse einfach selbst. Ich erinnere an die Urban-Gardening-Bewegung in Berlin und anderen Städten.

STANDARD: Der Hartz-IV-Empfänger gehört aber eher nicht zu dieser Bewegung.

Enslin: Doch. Das würde ich so nicht sagen. Es geht um eine Haltung. Es gibt auch immer mehr Menschen, die sich im Supermarkt die abgelaufenen Lebensmittel holen. Auch das ist nicht unbedingt eine Frage des Geldes, sondern der Haltung. Bewusster Verzicht ist auch ein Luxusthema.

STANDARD: Inwiefern?

Enslin: Man ist nicht mehr über das Einkommen definierbar.

STANDARD: Das macht es einem Produzenten von Haushaltsgeräten aber nicht einfacher, seine Produkte abzusetzen.

Enslin: Wir Designer definieren die Kunden über ihre Haltung. Haltung ist das Zauberwort.

STANDARD: Die Ernährung wird heute oft wie eine Ersatzreligion gehandhabt. Wie sehen Sie das?

Enslin: Ersatzreligion würde ich jetzt nicht unterschreiben. In den letzten 30 Jahren haben immer mehr Kunden den Glauben an die Lebensmittelindustrie verloren. Denken Sie an all die Skandale. Wenn man das Vertrauen verliert, sucht man Alternativen, und die gibt es. Schauen Sie sich die Bio-Ketten etc. an. Das ist eine Bewusstseins- und Erziehungsthematik und muss nichts mit Geld zu tun haben.

STANDARD: Die Kosten für eine Küche sind extrem unterschiedlich. Gekocht wird letztendlich in allen Küchen mit Wasser, um es salopp zu formulieren. Was darf denn eine Küche kosten?

Enslin: Ich denke, das kann man nicht monetär ausdrücken. Wenn Sie Freude am Kochen haben, schauen Sie nicht so sehr aufs Geld, sondern auf die Möglichkeit, Ihre Ideen und Wünsche umsetzen zu können. Klar ist Geld ein Thema, aber es geht mehr um Ideen, Sorgfalt, Kreativität und Liebe zum Detail.

Aus keinem Küchenstudio, sondern vom Flohmarkt aus Wien-Liesing stammt diese Puppenküche.
Foto: Lukas Friesenbichler

STANDARD: Was halten Sie von der Küche als Ausdruck von Prestige?

Enslin: Das ist eine kulturelle Frage. Wenn Sie nach Asien schauen, zeigt man mit einer luxuriösen Küche, dass man es gesellschaftlich geschafft hat und "dazugehört". Unser Luxusverständnis hat sich viel langfristiger entwickelt. Bei uns will man mittlerweile zeigen, dass man sich auskennt. Der Luxus besteht darin, dass man sich Zeit nimmt, die Dinge zu beherrschen und zu steuern. Ich kann jemandem Geld geben und sagen, 'mach das', oder ich nehme mir selbst Zeit. Beide Zugänge werden in einer Küche sichtbar.

STANDARD: Macht die Küche dem Auto als etabliertes Prestigeobjekt Konkurrenz?

Enslin: Das ist ein schlechter Vergleich.

STANDARD: Warum?

Enslin: Weil auch das Auto immer mehr zum Werkzeug wird. Das Auto hat ebenfalls eine Ausdifferenzierung erfahren. Was für die Küche gilt, trifft auch bei Autos zu. Es gibt nicht mehr diese klassischen Zielgruppen. Die Bedürfnisse sind heutzutage viel individueller als früher. Alles ist gerechtfertigt, egal, ob es sich um eine teure Prestigeküche handelt oder eine mit dem Tischler individuell zusammengestellte, einfache Küche. So schaut die Skala aus.

STANDARD: Warum hat sich diese Skala derart verändert?

Enslin: Weil es heute einfach die Möglichkeiten, die Informationen und den Zugang gibt. Ich nenne so etwas den "entwickelten Luxus".

STANDARD: Wenn man sich die vielen chromstahlblitzenden oder steinernen Monoblocks ansieht, wirkt dort jedes Geschirrhangerl fehl am Platz, und die von Ihnen angesprochene Gemütlichkeit ist verschwunden.

Enslin: Wenn die Küche zum Wohnraum wird, was definitiv der Fall ist, dann wollen wir Wärme, aber auch da besteht die Gefahr, überfordert zu werden. Wünsche sind verschieden, und es gibt es immer mehr Möglichkeiten, Wünsche zwischen Betonküche und hölzerner Kassettenküche umzusetzen.

STANDARD: Gleichzeitig sprechen Sie von der Trendfarbe Grau, bei Miele nennen Sie das "Graphite Grey". Die steht nun nicht gerade für Wärme.

Enslin: Grau steht für eine Stimmung der Skepsis.

STANDARD: Welche Trendfarbe wäre Ihnen persönlich denn am liebsten?

Enslin: Wenn man sich Trendfarben aussuchen könnte, wären sie keine Trendfarben mehr.

STANDARD: Wenn ich Sie aber jetzt zum "Lord of the Farbentrend" in der Küche ernennen könnte. Welche Trendfarbe würden Sie diktieren?

Enslin: Ich war einer der Ersten, die ein weißes Firmenauto hatten, und somit der einzige weiße Fleck auf dem Parkplatz. Der erste graue Fleck werde wahrscheinlich auch ich sein. Ich denke, mittelfristig wird es mehr in Richtung Farbe und Bronze gehen.

STANDARD: Sie präsentierten gerade die beeindruckende Installation "The Invisible Kitchen" (siehe Artikel: Fleckenlos), eine Art riesiger virtueller Kochberater, der weiß, wie scharf eine Chilischote ist, und Vorschläge macht, was man mit dem Inhalt des Kühlschranks anfangen soll. Allein die Sinnlichkeit des Kochens schien völlig verloren gegangen. Ein bisschen Dampf und Zwiebelgeruch hätte nicht geschadet, oder?

Enslin: Das stimmt, das mit dem Geruch haben wir nicht ganz hingekriegt, das ist aber auch schwierig in einem Raum mit mehreren 100 Kubikmetern. Wir glauben, dass der sensorische Moment beim Kochen das Entscheidende ist. Es geht darum, das Kreative auszuleben, Dinge auszuprobieren. Das System, das wir präsentierten, ist mit einem Kochberater vergleichbar. Es gibt Hilfestellungen, wenn ich unsicher bin, greift aber ein, bevor etwas schiefgehen kann. Die Küche wird immer ein Raum der Sinne bleiben.

STANDARD: Davon war gestern nicht viel zu bemerken, alles schien sehr computergesteuert.

Enslin: Erinnern Sie sich doch an die Auswahl der Petersilie oder die Karotte. Es gab keinerlei Fertigprodukte, nur lokal gekaufte, qualitativ hochwertige Produkte. Das detaillierte Wissen zu diesen haben wir auch noch mitgeliefert.

STANDARD: Wie realistisch ist es, dass die "Invisible Kitchen" eines Tages in dieser Form wahr wird?

Enslin: Die gezeigten Technologien und Abläufe sind längst existent, wir haben nichts gezeigt, was nicht schon in der einen oder anderen Form "Stand der Technik" ist. Natürlich ist der Reifegrad unterschiedlich: Gestik und Spracherkennung sind bereits Alltagstechnologien, vielleicht nicht gerade in Europa, da wir hier eher konservativ sind. In Japan oder auch in den USA wird aber ganz selbstverständlich mit Assistenzsystemen im Smartphone oder sogar mit Robotern wie "Pepper" von Softbank gesprochen. Ich schätze, dass wir innerhalb der nächsten zehn Jahre die ersten Assistenzsysteme in Küchen bzw. dem Haus finden werden. Wenn auch, wie gesagt, nicht unbedingt in Europa. Die Technik ist reif, und wir Menschen wollen weniger Technologie sehen. "The Invisible Kitchen" zeigt bereits heute, wie einfach und elegant so ein Küchenassistenzsystem aussehen könnte.

STANDARD: Warum geht es eigentlich immer um die Küche der Zukunft, das Auto der Zukunft, das Handy der Zukunft? Die Menschen sind schon mit den Möglichkeiten der Gegenwart oft überfordert.

Enslin: Menschen entwickeln sich und haben immer schon nach vorn geschaut. Wir sind nicht dazu geschaffen, in der Gegenwart zu verharren.

STANDARD: Und verlieren dennoch immer mehr den Überblick. Das erzeugt Stress.

Enslin: Sie sprechen von zwei Themen. Das eine ist die Entwicklung, das andere die Komplexität, und die vertragen wir als Menschen nicht.

STANDARD: In dieser Frage sind Designer gefragt.

Enslin: Sie sagen es. Wir Designer müssen aus all den technischen Optionen, die es gibt, jene herausfiltern, die relevant sind und Freude machen.

STANDARD: Und wie stellen Sie das in der Küche an? Bedürfnisse sind sehr verschieden.

Enslin: Wir gestalten die Beziehung zwischen Produkt und Kunden. Das ist eine ernste Sache ...

STANDARD: ... und klingt nach einem Werbeslogan.

Enslin: Als Designer muss man sich vornehmen, Menschen kennenzulernen. Unser Job ist das Herunterbrechen von technischer Komplexität in einfache und klar zugängliche Geräte, die Freude machen.

STANDARD: Freude als Garant von Nachhaltigkeit?

Enslin: Absolut. Wenn Sie einen Gegenstand mögen und schätzen, warum sollten Sie ihn dann wegwerfen? Selbst wenn er kaputtgeht, werden Sie ihn doch wahrscheinlich reparieren lassen. (Michael Hausenblas, RONDO, 12.5.2016)