Andre Gingrich forscht mit seinen Teams an der Uni Wien und an der ÖAW auch zu Fragen der Migration. "Die eigenen politischen Präferenzen dürfen bei der Interpretation der Ergebnisse keine Rolle spielen", fordert der Kultur- und Sozialanthropologe. "Das sollte aber auch für die Auftraggeber gelten."

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STANDARD: Anfang nächster Woche wird das neue Leitungsteam des Forschungsfonds FWF gewählt, des wichtigsten Förderers für Grundlagenforschung in Österreich. Was erhoffen Sie sich von der neuen FWF-Leitung?

Gingrich: Mit der Neuwahl des Präsidiums besteht die große Chance, den Fonds weiterzuentwickeln. Eine der drängendsten Aufgaben wäre es meiner Ansicht nach, eine bessere Komplementarität zu den Förderungen des Europäischen Forschungsrats (ERC) herzustellen.

STANDARD: An was denken Sie dabei konkret?

Gingrich: Dazu gehört sicher der Wittgenstein-Preis – und das sage ich jetzt als Wittgenstein-Preisträger. Da gibt es fraglos Überschneidungen mit den Advanced Grants des ERC, für den ich selbst viele Jahre als leitender Gutachter tätig war. Ich denke, dass aber auch andere Programme zu überprüfen wären, ob sie noch zeitgemäß sind. Das würde Mittel für Umschichtungen freimachen und wäre besser, als etwa bei Frauenförderungsprogrammen stillschweigend zu kürzen, wie das in der Vergangenheit geschehen ist. Es geht aber auch um die Begutachtungsverfahren selbst, die weiterentwickelt werden sollten.

STANDARD: Was ist da verbesserbar?

Gingrich: Die Begutachtungsstandards des ERC sind im Vergleich zu jenen des FWF wesentlich anspruchsvoller, das betrifft insbesondere die Diskussionen, welche Projekte nun gefördert werden sollen und welche nicht. In Brüssel gibt es bei den dafür zuständigen Panels oft stundenlange inhaltliche Debatten, um auf Basis der Gutachten zu den bestmöglichen Entscheidungen zu kommen.

STANDARD: Ist das realistisch, beim FWF und seiner Geldknappheit so aufwendige Verfahren einzuführen?

Gingrich: In nordischen Forschungsförderungseinrichtungen ist das ebenfalls üblich, beim FWF existieren sie nur für die Wittgenstein- und Start-Preise, und gerade da sind die Panels nicht fachspezifisch zusammengesetzt. Die Qualität der Begutachtungen gerade in den Sozial- und Geisteswissenschaften ließe sich aber enorm verbessern, weil in dem Bereich unterschiedliche Bewertungen häufiger vorkommen, was wiederum mit der Paradigmenvielfalt in unserem Bereich zu tun hat.

STANDARD: Gibt es genug FWF-Geld für die Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften?

Gingrich: Meine erste Forderung wäre gar nicht einmal mehr Geld. Ich fände es aber gut, wenn es eine vorher verbindlich kommunizierte Quote geben würde. Und die sollte zwischen 18 und 20 Prozent betragen. Das hat zwar in den letzten Jahren immer so eingependelt, kam aber immer erst im Nachhinein mehr oder weniger zufällig zustande.

STANDARD: Im vergangenen Jahr konnten Forscher in oder aus Österreich immerhin 11 Advanced Grants des ERC gewinnen, darunter war diesmal aber kein einziger aus den Sozial- oder Geisteswissenschaften. Wie gut steht dieser Bereich international da?

Gingrich: Im Vergleich zur Fußballnationalmannschaft oder zu den Leistungen im Bereich der Musik eher schlecht. Wir liegen irgendwo im europäischen Durchschnitt und laufen Gefahr, nach unten abzurutschen. Für eines der wohlhabenden Länder, das sich mit den skandinavischen Ländern, den Niederlanden oder der Schweiz messen möchte, ist das eher beschämend. So spielen wir eher in einer Liga mit Portugal oder Bulgarien.

STANDARD: Woran liegt es, dass die Lebenswissenschaften und die "harten" Naturwissenschaften wie die Physik allem Anschein nach erfolgreicher sind?

Gingrich: Zunächst einmal hat das mit den Forschungskapazitäten an den Universitäten zu tun. Insbesondere die Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften leiden am unbeschränkten Hochschulzugang und müssen hohe Lasten im Bachelor- oder Masterbereich tragen. Die Quantenphysiker oder die Biochemiker sind davon weniger betroffen, weil sie weniger von Studierenden überschwemmt werden als die Soziologen, Anthropologen oder die Kunsthistoriker.

STANDARD: Liegt es nicht auch an der Qualität der Forscher?

Gingrich: Zweifellos. Man hat an Österreichs Universitäten gerade in dem Bereich Personal lange nicht nach internationalen Qualitätskriterien rekrutiert. Es war bequemer, durchschnittlich Habilitierte aus einem deutschsprachigen Land zu nehmen als exzellente Leute aus dem nicht-deutschsprachigen Ausland, die keine Habilitation besitzen. Das hat natürlich eine Langzeitwirkung. Bei den Jungen hingegen sieht es viel besser aus: Da gibt es in Fächern wie der Ägyptologie, der Archäologie, der Geschichte, den Philologien, aber auch der Sozialanthropologie – um nur einige zu nennen – exzellente Nachwuchskräfte.

STANDARD: Allem Anschein nach tut man sich aber schwer, diese exzellenten jungen Leute in Österreich zu halten.

Gingrich: Das stimmt. Es gab in den letzten Jahren leider viele solche Fälle, und davon sind überproportional viele junge Forscherinnen betroffen. Einige Jahre Auslandsaufenthalt sind ja an sich wichtig und auch förderungswürdig. Aber wenn von diesen exzellenten Leuten kaum mehr jemand zurückkommt, dann stimmt etwas nicht. Wir hätten schon eine gewisse Pflicht, den besten der hier Ausgebildeten – das können auch Ausländer sein – eine Chance zu geben.

STANDARD: Fehlt womöglich auch ein sichtbares Exzellenzzentrum für die Sozial- und Geisteswissenschaften – ähnlich dem IST Austria oder dem Vienna Biocenter in den Lebenswissenschaften?

Gingrich: Ich denke, dass die Geistes- und Sozialwissenschaften in Österreich noch nicht so weit sind, dass ein größeres Zentrum wirklich etwas bringt. Kleinere Zentren, die zum Teil ja schon existieren – wie etwa in der Demografie das um Wolfgang Lutz – sind meines Erachtens vielversprechender. In der Sozial- und Kulturanthropologie gibt es auch eine Art von Clusterbildung unter Beteiligung der ÖAW, der Universität aber auch des Weltmuseums. Gerade bei der Vernetzung von universitären und außeruniversitären Einrichtungen besteht aber innerhalb von Österreich immer noch viel Optimierungspotenzial.

STANDARD: Sehen Sie dieses Potenzial auch bei der Ausbildung vom wissenschaftlichen Nachwuchs, also von jenen Leuten, die dissertieren und dann an in der Wissenschaft bleiben?

Gingrich: Auch da sollte sich einiges ändern. Es war ja nicht ganz ideal, die Doktoratskollegs dem FWF zu überantworten und nicht den Universitäten selbst, wo sie eigentlich hingehören. Das gehört eigentlich vom FWF weg und an die Unis zurück. Von meinen erstbetreuten Dissertierenden an der Universität dürften 75 bis 80 Prozent in der Wissenschaft bleiben. Das hat damit zu tun, dass ich keine Betreuung übernehme, wenn die Finanzierung der Dissertation nicht sichergestellt ist. Das ist aber nicht überall so, sondern geht eher gegen ein Drittel.

STANDARD: Was eher üblich ist…

Gingrich: Ja, und es gehört auch zur Professionalisierung unserer Fächer, dass nur ein Teil der Absolventen in der Wissenschaft arbeiten kann und soll, während die anderen in wissenschaftsnahen, aber anwendungsorientieren Bereichen tätig werden – ähnlich, wie Medizinabsolventen praktische Ärzte werden. Diese Professionalisierung ist wiederum ein guter Anlass, über die Lehre nachzudenken und den Staub der Weltfremdheit etwas abzuschütteln.

STANDARD: Apropos: Wie anwendungsorientiert können und sollen die Geistes- und Sozialwissenschaften überhaupt sein?

Gingrich: Das mag jetzt manchen meiner Kollegen etwas ketzerisch erscheinen, aber meines Erachtens sollte die angewandte Forschung auch in unserem Bereich nichts Anrüchiges haben, im Gegenteil. In vielen Fällen kann sie sogar Impulse für die Grundlagenforschung geben. Viele Arbeiten in diesem Bereich sind von exzellenter Qualität und daher förderungswürdig.

STANDARD: Wie sehen das die Geldgeber wie der FWF oder der ERC?

Gingrich: Der ERC hat in seinen Statuten festgelegt, dass er exzellente Grundlagenforschung, aber auch anwendungsoffene Forschung fördert. Der FWF hat diese anwendungsoffene Forschung erst recht spät in sein Portfolio aufgenommen, was auch daran liegt, dass der FWF einem anderen Ministerium untersteht als die FFG, die für anwendungsorientierte Forschung zuständig ist. Programme, die dazwischen liegen, sind leider immer nur von kurzer Dauer gewesen.

STANDARD: Hat die FFG je sozial- und geisteswissenschaftliche Projekte gefördert?

Gingrich: So gut wie gar nicht, und das sollte sich ändern. Dort hat man bis jetzt vor allem mit Steuergeldern Forschung im Interesse von Unternehmen unterstützt. Aber es gibt sehr wohl auch anwendungsorientierte geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung, die im öffentlichen Interesse ist und deshalb finanziert werden sollte.

STANDARD: Von hohem öffentlichem Interesse sind heute Themen rund um Migration und Flüchtlingen. Wie sieht da die Expertise der Sozial- und Kulturanthropologie aus?

Gingrich: Am Wiener Uni-Institut gibt es beides: Wir haben einen Bereich, der im Zusammenhang mit der Migrationsbetreuung angewandte Anthropologie betreibt. Es gibt aber auch hier eher grundlagenorientiert Forschung, etwa die Arbeiten meiner Kollegin Ayşe Çağlar. Auch am Akademieinstitut ging es im Rahmen unseres Asienschwerpunkts immer auch schon um Fragen der Migration. Und aufgrund der erhöhten Aktualität des Themas sind wir übereingekommen, ein Netzwerk aufzubauen und gemeinsam mit dem von Heinz Fassmann geleiteten ISR für das Ministerium für Europa, Integration und Äußeres eine Auftragsstudie durchzuführen.

STANDARD: Könnte sich die Wissenschaft nicht noch mehr einbringen – etwa in die Diskussion um die Obergrenzen bei den Asylwerbern?

Gingrich: Wissenschaftliche Expertise sollte in diesen Fragen sicher noch mehr zum Einsatz kommen. Aber eine solche Studie muss länderübergreifend und von mehreren Disziplinen angegangen werden. Es geht da ja nicht nur um demografische Fragen, sondern auch um die soziale Infrastruktur oder die kulturelle Erfahrung mit Flüchtlingsbewegungen. Österreich etwa hat da in den letzten 60 Jahren besonders viele Erfahrungen gesammelt, und das hat im letzten Jahr sicher sehr geholfen, mit diesen knapp 100.000 Asylantragstellern umzugehen und diese Herausforderung zu bewältigen.

STANDARD: Man hat den Eindruck, dass die bisherigen Studien in dem Bereich politisch nicht immer ganz unabhängig waren.

Gingrich: Das mag stimmen. Leider hoffen manche Politiker schon oft über die Auswahl der Forschenden, jene Ergebnisse zu erhalten, die sie politisch gerne hätten. Die Politik müsste in dem Zusammenhang offener sein, mit unangenehmen Resultaten umzugehen. Umgekehrt sind auch wie Sozial- , Kultur und Geisteswissenschafter in jedem Fall zur Wahrheit verpflichtet. Die eigenen politischen Präferenzen haben da absolut nichts zu suchen in der Interpretation der Ergebnisse. Das sollte aber auch für die Auftraggeber gelten. (Klaus Taschwer, 11.5.2016)