In den letzten Stunden fällt alles zusammen: Lav Diaz' Kurzfilm "The Day Before the End".

Foto: Kurzfilmtage Oberhausen

Es könnte ein ganz gewöhnlicher Tag sein, den diese Filmbilder zeigen: Momentaufnahmen einer Stadt, Miniaturen des Alltags. Ein Blick über die Theke in einem kleinen, mit Hintergrundlärm erfüllten Lokal. Oder in eine Zahnarztpraxis, in der das laute Dröhnen eines Bohrers den Ton angibt.

Doch dieser Tag ist kein gewöhnlicher, das weiß man schon deshalb, weil der Titel des Films The Day Before the End lautet und damit die Perspektive bereits vorgibt: Es wird vermutlich Furchtbares geschehen, und als böses Omen fallen dann tatsächlich erste Regentropfen vom schwarzen Himmel. Doch was machen die Menschen? Der Mann in dem kleinen Straßencafé, vielleicht ein Schauspieler, der den Hamlet einstudiert, beginnt offensichtlich aus der Rolle zu fallen. Und er ist kein Einzelfall: Mitten auf dem Marktplatz deklamiert eine Frau den Julius Caesar, bis Shakespeare die Stadt zur Bühne werden lässt. Und bis Der Sturm in Wirklichkeit losbricht und das Wasser meterhoch die Straßen überschwemmt.

Der auf Festivals vielfach ausgezeichnete philippinische Filmemacher Lav Diaz, eher für seine epochalen, mehrere Stunden dauernden Arbeiten bekannt, bewies in Oberhausen mit The Day Before the End, wie 16 Minuten ausreichen, um Denkräume zu öffnen, in denen Geschichte und Gegenwart zusammenfallen. Klassik und Moderne, Leben und Dichtung, Alltag und Absurdität finden hier – in für Diaz typischem Schwarz-Weiß – zusammen.

In dem mit über 60 Filmen bestückten internationalen Wettbewerb, darunter 40 Weltpremieren, blieben derartig konzentrierte Arbeiten jedoch die Ausnahme. Das mag der hohen Dichte an Produktionen geschuldet sein, die Oberhausen als eines der weltweit renommiertesten Kurzfilmfestivals erneut präsentierte. Da bleiben Enttäuschungen nicht aus, es wäre allerdings eine Schärfung angebracht. Denn eindeutig zu erkennen war, wie oft die kurze Form von einer falsch verstandenen Ökonomie geprägt ist, die sie zum Versuchsfeld etwa für harmlos-verspielte Animationen werden lässt oder zu ästhetischer Überfrachtung führt, die den Blick aufs Wesentliche verstellt.

Tägliche Forschungsarbeit

Ganz im Gegensatz dazu die neue Arbeit von William E. Jones, A Great Way of Life, eine bitterböse Kriegssatire, in der der US-Künstler Archiv- und Propagandamaterial aus dem Vietnamkrieg mit Slogans aus TV-Werbespots der späten 1960er unterfüttert. Der Diskurs um die Glaubwürdigkeit von Bildern und Worten wird hier an allen Fronten geführt, der Kampf um Ökonomie und Öffentlichkeit beherrscht Artilleriestellungen und TV-Kanäle, die ihr Publikum unter Dauerbeschuss nehmen.

Man tendierte also zu den Sonderprogrammen: Die dem Österreicher Josef Dabernig (Jg. 1956) gewidmete Personale glänzte etwa durch die Möglichkeit, dessen frühe Arbeiten wie Gehfilmen 6 (1994) und Wisla (1996) in den originalen 16-mm-Formaten wiederzuentdecken, inklusive einer Lesung des Ticket Content – das Ergebnis von Dabernings Fußball- und Sammelleidenschaft. Oder mit der Leseperformance Einfluss der Darmgifte ... über die Auswirkung ebendieser auf das menschliche Auge – in der es vor allem um die Auswirkung auf das Ohr des Zuhörers ging.

Zu einem festen Bestandteil sollte im Laufe der Festivaltage indes die Reihe El pueblo werden, die sich dem südamerikanischen Kurzfilm der vergangenen zehn Jahre widmete und ihren mehrdeutigen Titel in vielfacher Weise auslotete: Das vom Filmwissenschaftler Federico Windhausen hervorragend kuratierte Programm erwies sich als eine Art tägliche Forschungsstation, die dem spanischen Begriff pueblo – als Ort und Region, als Gemeinschaft und Volk – in unterschiedlichen Bereichen nachspürte: von Ethnografie über Arbeit bis zur Stadt als Lebensraum.

So etwa im bemerkenswerten El palacio (2013) des Mexikaners Nicolas Péreda, in dem sich eine Gruppe von Frauen in einem Haus einfindet, um sich auf eine Arbeit als Haushälterin vorzubereiten: ein Kammerspiel in langen, ruhigen Einstellungen mit Laiendarstellerinnen, die sich beim inszenierten Bewerbungsgespräch behaupten müssen. Oder in den in Kollektivform entstandenen Arbeiten über politischen Widerstand, die das Verhältnis von Staatsgewalt und Bürgerrecht in den vormaligen Diktaturen in ihrer komprimierten, verdichteten Form zum Ausdruck brachten. Für Oberhausen ein Gewinn – die Kunst der Vielfalt bei thematischer Einheit. (Michael Pekler aus Oberhausen,10.5.2016)