Uni-Professor, Altlinker und Minister: Nikos Kotzias beklagt die Renationalisierung in der EU wegen der Flüchtlingskrise.

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STANDARD: Sie kommen nach Wien und bringen die Botschafterin zurück. Was ist das – ein Aussöhnungsbesuch?

Kotzias: Ich habe mit niemandem Streit gehabt. Ich freue mich, nach Wien zu kommen. Das wäre mein Titel.

STANDARD: Aber Sie haben sich sehr geärgert über die Grenzschließung und die Balkankonferenz der österreichischen Regierung im Februar.

Kotzias: In der Außenpolitik kann man sich keine Verärgerung leisten. Man muss die Interessen des Landes und die der Europäischen Union schützen. Ich hatte den Eindruck, dass während der Flüchtlingskrise – ich nenne kein bestimmtes Land – viele nach einer Renationalisierung europäischer Politik getrachtet haben. Renationalisierung heißt in der Praxis Fragmentierung der Europäischen Union. Wer als alter Linker wie ich sich sehr viel Mühe gegeben hat für diese Europäische Union – ich war an der Verhandlung mehrerer Verträge in den 1990er-Jahren und Anfang dieses Jahrhunderts beteiligt – dem tut es weh, wenn nationalistische und chauvinistische Stimmen wieder hochkommen. Man muss dann sehr aufpassen, nicht in eine solche Auseinandersetzung mit hineingezogen zu werden.

STANDARD: Eine Botschafterin zu Konsultationen zurückzuberufen ist unter EU-Staaten sehr ungewöhnlich.

Kotzias: Das ist sehr ungewöhnlich wie auch die Vorwürfe, die meinem Land gemacht wurden, sehr ungewöhnlich waren. Danach gab es ein paar Kommentare über diesen Schritt, aber dann war Ruhe. Ich habe auch damals gesagt, als ich die Botschafterin zurückgerufen habe: Ich tue das, damit wir diese Auseinandersetzung mit Wien nicht weiter verfolgen müssen. Die Form, wie mit uns insgesamt in Europa umgegangen worden ist, war nicht die rationalste für die Zukunft der EU. Ich glaube, die Sache hat sich etwas entspannt – auch durch die Abmachung zwischen der EU und der Türkei für die Flüchtlinge. Das Klima ist besser geworden.

STANDARD: Was hat sich denn geändert seit Februar? Die Grenzen auf dem Balkan sind weiter geschlossen. Die Umsiedlung von Flüchtlingen aus Griechenland funktioniert immer noch nicht.

Kotzias: Wir haben jetzt eine europäische Politik. Und diese europäische Politik ist zuerst das Abkommen mit der Türkei und zweitens die Vereinbarung der EU-Staaten über die Umsiedlung, die jedoch nicht umgesetzt wird. Natürlich muss ich sagen, dass wir ein Problem in der EU haben. Wir haben seit langem keine Diskussion mehr geführt über unser Selbstverständnis, über die EU, die wir im 21. Jahrhundert haben wollen.

STANDARD: Die Grundsatzdebatte fehlt Ihnen?

Kotzias: Ja. Seit der großen Erweiterung nach Osteuropa hat es keine einzige Diskussion über den Wert, die Vorstellung von Europa gegeben. Ich habe nur an Diskussionen teilgenommen, wie man Spar-Memoranden aufbaut, Sanktionen durchführt, Embargos aufstellt, über den Gebrauch negativer – sehr oft nötiger, aber eben negativer – Diplomatie. Damit baut man keine Zukunft. Deshalb kommt es zu nationalen Alleingängen.

STANDARD: Die Flüchtlingskrise lässt überall in Europa die rechtsgerichteten Kräfte anwachsen, auch in Österreich.

Kotzias: Weil es die Identitätskrise der EU gibt. Kurzsichtige Politik ist eine Reaktion auf das Erstarken der Rechtsgerichteten. Ich will mich nicht in innere Angelegenheiten eines Landes einmischen, aber meine Erfahrung aus der Politik ist, wenn man nicht bewusst seine Agenda verteidigt, sondern sich zur Agenda bewegt, die gerade aktuell ist, dann nehmen die Wähler lieber das Original.

STANDARD: Glauben Sie, das Flüchtlingsabkommen löst die Krise?

Kotzias: Nein. Aber es ist eigenartig, wie sich die Linke in Europa benimmt. Sie beschäftigt sich zu Recht mit den Menschenrechten der Flüchtlinge. Doch eine Massenbewegung gegen den Krieg organisiert sie nicht. In Europa gab es immer Antikriegsbewegungen, gegen den Vietnamkrieg zum Beispiel oder den Irakkrieg. Jetzt haben wir einen Krieg unmittelbar vor unserer Tür, einen, der direkt Auswirkungen auf unseren Alltag hat, und trotzdem gibt es keine Bewegung gegen den Krieg.

STANDARD: Gegen wen wollen Sie demonstrieren – gegen das Assad-Regime, den "Islamischen Staat"?

Kotzias: Ja, doch. Und man sollte Druck auf alle Seiten ausüben, damit über einen Frieden verhandelt wird. Die Ursache der Flüchtlingskrise ist der Krieg in Syrien. Ich habe schon im Jänner vergangenen Jahres, am zweiten Tag, als ich im Amt war, gesagt, dass ein großes Problem mit den Flüchtlingen aus Nahost kommen wird. Ich wurde von der europäischen Presse und den Konservativen in Europa beschimpft. Meine Worte wurden verdreht. Man hat gesagt, ich wollte vom Ukraine-Problem ablenken.

STANDARD: Man hat gesagt, Sie seien russlandfreundlich.

Kotzias: Ja, weil ich von den Flüchtlingen gesprochen habe. Deshalb war ich plötzlich prorussisch. Jetzt ist ganz Europa prorussisch. Man hat in der EU einen Fehler nach dem anderen begangen, man wollte nicht wahrhaben, was im Kommen war. Wir haben unheimlich viel Zeit verloren. Das hat nichts mit einer Grenze zu tun, die man da oder dort schließt. Man hätte das Problem damals vor Ort lösen können mit einer gemeinsamen europäischen Politik. Deshalb hat es mich gestört, dass alle Vorwürfe plötzlich auf uns fielen. Wir waren es nicht, die Syrien oder Libyen bombardiert haben. Die Länder, die bombardierten, haben uns noch beschimpft, dass wir das Flüchtlingsproblem nicht richtig lösen. (Markus Bernath, 10.5.2016)