Cover: Columbia/Sony

Eine Stimme wie Sand und Klebstoff. David Bowie beschreibt in seinem "Song for Bob Dylan" eine Gesangsqualität, die zur unüberwindlichen Hürde werden kann. Oder zum Sprungbrett für das Eintauchen in ein vielgestaltiges Werk.

Im vergangenen Jahr hat Dylan seinen vielen Stimmen, die vom schneidenden Gesang der frühen Jahre über den weichen Tenor der Country-Phase bis zum zerschossenen Blues-Geheul reichen, die wohl unerwartetste hinzugefügt: jene des Crooners.

Möglich wurde dieser emotionsgeladene, dabei intime Gesangsstil, der ganz auf die Wärme der Stimme setzt, erst ab den 1920er-Jahren durch moderne Mikrofontechnik. Ihr Repertoire bezogen Sänger wie Rudy Vallée, Bing Crosby oder Frank Sinatra aus den Jazz-Standards des Great American Songbook. Was heute als sentimental gelten mag, wirkte einst sexuell aufreizend. Als eines der ersten Teenager-Idole löste Sinatra in den 1940er-Jahren richtiggehende Tumulte aus.

"Fallen Angels", Bob Dylans 37. Studioalbum, erscheint am 20. Mai.
Cover: Columbia/Sony

Gefallene Engel

Es ist dieser frühe Sinatra, nicht der späte, der es hasste, in jedem Konzert "Strangers in the Night" singen zu müssen, auf den Dylan auf dem wenige Tage vor seinem 75. Geburtstag erscheinenden Album "Fallen Angels" fokussiert. Der Albumtitel erinnert an Otto Premingers Film-noir-Klassiker "Fallen Angel", und etliche der Songs teilen die fatalistische Weltsicht der Schwarzen Serie der Nachkriegszeit. Kreiste Dylan im vergangenen Jahr auf seiner ersten Standards-Erkundung "Shadows in the Night" vor allem um jene Balladen der späten 1950er-Jahre, die Sinatra als seine "Suicide Songs" bezeichnete, geht die Reise jetzt noch weiter zurück. Songs wie seinen ersten Hit "Melancholy Mood" oder "All or Nothing at All" spielte Sinatra bereits 1939 mit dem Harry James Orchestra ein.

Auf seinen jüngsten Alben "Shadows in the Night" und "Fallen Angels" beschwört Bob Dylan den Geist des Film noir.
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Ob Sinatra nicht zu spießig für Dylan sei? Beat-Poet Jack Kerouac habe ebenso Sinatra gehört wie die Bebop-Revolutionäre Charlie Parker und Dizzy Gillespie, sagte Dylan im Interview mit dem Seniorenmagazin "AARP". Er selbst habe damals keine Platten von Sinatra gekauft. Man habe dessen Musik aber im Auto oder in der Jukebox gehört, und sie sei damit bei allen unabhängig vom Alter im Bewusstsein verankert worden. Er habe diese Songs nicht covern, sondern mit seiner fünfköpfigen Tourband uncovern, also enthüllen, neu entdecken wollen. Dylans Stimme klingt dabei so elastisch wie lange nicht.

Songwriter statt Lohnschreiber

Dylans aktuelle Hinwendung zum Great American Song Book geht so weit, dass der bedeutendste Songwriter seiner Generation ein gutes Drittel seiner Konzerte damit bestreitet, während er nur zwei seiner berühmten eigenen Songs aus den 1960er-Jahren regelmäßig spielt. Ironischerweise war es die von Dylan angeführte Songwriterbewegung, die jene Lohnschreiber weiter ins Abseits drängte, denen sich ein gewichtiger Teil des Great American Songbook verdankt. Nicht mehr die in den Büros des New Yorker Musikergrätzels Tin Pan Alley verfassten knappen Songverse entsprachen dem Zeitgeist, sondern die Singer-Songwriter, die in den Folk-Clubs des Greenwich Village auftraten.

Dylans Einfluss in dieser Zeit war so weitreichend, dass er bis heute gerne auf den Protestsänger reduziert wird. Tatsächlich hat der Woody-Guthrie-Bewunderer nur zwei Alben veröffentlicht, die nebst Liebesliedern und humoristischen Songs vorwiegend politische Songs enthielten. In den Jahren 1962 und 1963 entstandene Songs wie "Blowin' in the Wind", "Masters of War", "With God on Our Side" oder "The Times They Are A-Changin'" trafen den Nerv der von der Bürgerrechtsbewegung bewegten Zeit.

Nur der hippe, elektrifizierte Dylan von "Highway 61 Revisited" und "Blonde On Blonde", der mit seiner bahnbrechenden, ins Surreale lappenden Songpoesie die Folkies vor den Kopf stieß und die Rockmusik in eine neue Ära katapultierte, genießt ähnliche ikonische Kraft. Neben dem Songwriter war es der Sänger Dylan, von dem sich ein Leonard Cohen ebenso wie ein Lou Reed ermutigt fühlten, es selbst mit dem Singen zu wagen.

Mit der Hippiebewegung nicht viel am Hut habend, beschließt Dylan die Sixties zurückgezogen als Familienmensch, der unter anderem ein Country-Album samt Duett mit Johnny Cash einspielt. Die nächste Finte, mit der er endgültig der ungeliebten Rolle eines "Sprachrohrs seiner Generation" entfliehen will: Ausgerechnet unter dem Titel "Self Portrait" veröffentlicht Dylan 1970 ein Doppelalbum, das kaum mit neuen Songs, stattdessen mit Traditionals und Coverversionen aufwartete. Für Paul Simons "The Boxer" singt Dylan im Duett mit sich selbst. Greil Marcus eröffnet seine berühmt gewordene Kritik des Albums mit der Frage: "What is this shit?"

Shape Shifter und Trickster

1971 widmete David Bowie seinem Kollegen Bob Dylan einen Song.
beeb1992

David Bowies ein Jahr später erschienener "Song for Bob Dylan" mag ein Aufruf an den Kollegen gewesen sein, die verwaiste Führungsrolle wieder wahrzunehmen. Zwar kehrt Dylan wenige Jahre später in die Arena als Rock-Star zurück. Die verlässlichste Rolle bleibt aber die eines nur schwer fassbaren Shape Shifters und Tricksters, egal ob er mit "Blood on the Tracks" eines der großen Trennungsalben einspielt, mit der karnevalesken Rolling Thunder Revue auf Tour geht oder in einer seiner musikalisch intensivsten Phasen hartgesottene Fans als Born Again Christian verstört.

Heute inszeniert sich Dylan mehr denn je als Minstrel Boy, den er bereits auf "Self Portrait" besungen hat. Als fahrenden Musiker, der Abend für Abend, Woche für Woche, Jahr für Jahr seinen Job macht. Dylans Vorstellung vom Performer als "working musician" hat wenig zu tun mit den Rockspektakeln unserer Tage, sondern reicht in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück, als Musiker in den USA nicht auf großen Bühnen, sondern auf Jahrmärkten, in Kneipen und Tanzhallen auftraten.

Never Ending Tour

Wer heute eines seiner nach wie vor rund 100 Konzerte pro Jahr besucht, erlebt nicht mehr den spannenden, aber Publikumserwartungen oft frustrierenden Dekonstruktivismus, mit dem Dylan 1988 seine Never Ending Tour begann. Statt mit der früheren Punk-Attitüde betreten Dylan und seine Band die Bühne als Mythenbeschwörer. Filmscheinwerfer sorgen für Atmosphäre wie im Film noir. In altertümlichen Hüten und Anzügen wirkt er wie ein Riverboat Gambler, der mit dubiosen Gesellen am Flussufer zum Tanz aufspielt.

"Working musician" Bob Dylan im Oktober 2015 auf der Bühne der Londoner Royal Albert Hall. (Foto: Paolo Brillo)
Foto: Paolo Brillo

Die Vorstellung von quer durchs Land ziehenden Minstrel Shows und Schaustellern sollte Dylans Fantasie schon früh anfeuern. Geboren am 24. Mai 1941 in Duluth, Minnesota, wächst Robert Zimmerman in den behüteten Verhältnissen einer jüdischen Kaufmannsfamilie auf. Als er seine Karriere als Singer-Songwriter in Angriff nimmt, gibt er sich gerne als Waisenkind oder Ausreißer aus, der mit dem Zirkus unterwegs ist. Bis heute, selbst in seiner 2004 erschienenen Autobiografie "Chronicles: Volume One", ist Dylan ein großer Fabulierer geblieben, der Spuren gerne verwischt. Dylan mag berühmt sein, eine Celebrity ist er nicht. Dass er nach seiner ersten Ehe ein zweites Mal geheiratet und eine Tochter aus dieser Beziehung hat, sollte erst Jahre, nachdem auch diese Ehe geschieden wurde, ans Tageslicht kommen.

Ein gewitzter Trickster, der das Spiel mit Andeutungen liebt, ist Dylan auch als Songwriter geblieben. 'Love And Theft' hat er ein gefeiertes, 2001 erschienenes Album genannt, nach einem Buch über die oben und unten, "high brow" und "low brow" verkehrende Minstrel-Show-Tradition. In Dylans Songs der letzten Jahre finden sich perfekt einmontierte Zitate von Ovid und Shakespeare ebenso wie von obskuren Bürgerkriegsdichtern oder aus einem Yakuza-Krimi. Dylan, der Meisterdieb aus Liebe, sieht sich damit nach wie vor in der Folk-Tradition.

Theme Time Radio Hour

1995 spielte Bob Dylan für Frank Sinatra seinen Song "Restless Farewell".
Plonk Lane

In frühere Zeiten hat der Pop-Archäologe Dylan sein Publikum auch mit seiner "Theme Time Radio Hour" entführt. Nicht weniger als 101 einstündige Radiosendungen präsentierte er von 2006 bis 2009 und blieb dabei doch ein Enigma. Nicht fehlen im Programm durfte einer, den er auch auf der Leinwand oft gesehen hatte: Frank Sinatra.

Als 1995 eine Gala anlässlich des 80. Geburtstags Sinatras stattfand, soll Dylan der Einzige gewesen sein, der vom Jubilar gebeten wurde, keinen Sinatra-Song, sondern Eigenes zu singen. "Oh a false clock tries to tick out my time", heißt es in "Restless Farewell", das Dylan dann live spielte. Und weiter: "So I'll make my stand and remain as I am and bid farwell and not give a damn." Dylans "My Way", das für beide passt, Mr. Bob und Mr. Frank. (Karl Gedlicka, 17.5.2016)