Foto: Wonge Bergmann
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Foto: Wonge Bergmann

Wien – Die Tänzerinnen und Schauspieler, auch die Sängerin haben sich nach erschöpfender Aktivität auf der Bühne schlafen gelegt, und das zart hinübergebracht von Wolfgang Amadeus Mozarts "Ruhe sanft". Es ist drei Uhr morgens. Jan Fabres 24-stündiges Marathonstück "Mount Olympus. To Glorify the Cult of Tragedy", das die Festwochen gerade in der Halle E des Museumsquartiers zeigen, macht fünfzig Minuten Pause, bevor es wieder ans Ekstasenwerk geht, das heute, Sonntag, bis 19.30 Uhr weitergetrieben wird. Wer übrigens noch hinschauen will: Es gibt Späteinsteigerkarten für Interessierte über 16 Jahren, sobald Plätze frei werden.

Was sich bisher getan hat, war nicht immer ganz jugendfrei. Erst verbreiteten sich schlechte Nachrichten auf dem Olymp. Die wurden zwei weißgekleideten Kündern von hündischen Sehern in die Hinterteile geblasen und von ihren Mündern klar und deutlich verlautbart: "Die Natur wird ihre Macht zeigen." Eine Stadt – Troja – ist in Gefahr. Im Anschluss erfasste ein Scheinwerfer das Geschlecht eines nackten Herrn der Schöpfung, und siehe, wie von Zauberhand wuchs eine Erektion, die in einen großen Twerking-Tanz überleitete. Twerk ist Hochkunst des Hinternwackelns, die hier zum Vegetarierschrecken wurde: Aus der Wäsche der Tanzenden fielen allerlei Innereien und sonstige Fleischteile, im Handlungsstrang der Übergang zum großen Menschenschlachten.

Kettenspringen in der Gruppe

Dionysos hatte schon zuvor die Bühne geentert, und mit ihm sein weiblicher Widerpart. Die beiden werden den ganzen Tag hindurch die schwere und doch lüsterne Aufgabe der ambivalenten Advokaten des Untergangs erfüllen. Vierzehn Kapitel hat "Mount Olympus". Bis drei Uhr waren vier davon durchwütet, mit Gruppentänzen, auf Englisch, Italienisch, Französisch oder Deutsch gesprochenen Monologen und Chören sowie zum Teil brillanten Tanzsoli. Mit grotesken und brutalen, zum Teil auch slapstickhaften, witzigen Situationen und Erschöpfungsübungen wie einem Gruppen-Springseiltanz. Erschwerend beim Letzteren: Statt Seilen wurden Metallketten gewirbelt und zugleich musste Text gesprochen werden.

Auftritte hatten unter anderen mythologischen Figuren der Krieger Etokles, die ihr ermordetes Kind betrauernde Hekabe oder der grimme, hier der Kette entsprungene Odysseus in seiner schicken Rüstung. Weiters der in einen vituosen Kampf mit seiner Krone verstrickte Kreon – eine Szene, die sehr an das Motiv von Saurons Ring bei "Herr der Ringe" erinnerte. Weniger überzeugend, aber immer noch auszuhalten: der Auftritt eines blinden und stotternden Ödipus, der sich wortreich verteidigte, weil er seinen Vater getötet und mit seiner Mutter geschlafen hatte.

"Oh my God!"

Dem Antwerpener Choreografen, Regisseur und bildenden Künstler Jan Fabre liegen starke Bilder, und von diesen oft schön vordergründige. Da vermitteln Eislutscher die Geilheit des Menschen, es werden Herzen reingewaschen (später Lebern, das hat mehr Ironie) und Bäumchen beschlafen. Für einige junge amerikanische Zuschauerinnen im Publikum war das – "Oh my God! They are raping trees...!" – eine Überraschung. Für das eher gestandene Wiener Publikum, das mit Szenenapplaus nicht geizte, eher ein Spaß. Während sich am Beginn des den Bakchen (Mänaden) gewidmeten, vierten Kapitels ein weiblich besetzter Lach-Chor sein Bestes gab, wurde eine Zuschauerin von einem echten Lachkrampf heimgesucht. Das steigerte den Unterhaltungswert der Szene erheblich.

Halbzeit, 7.30 Uhr: Nach zwölf Stunden hat "Mount Olympus" noch mehr an Konturen gewonnen. Rund dreißig Akteure respektive Akteurinnen, darunter Renée Copraji, Els Deceukelier und Ivana Jozic, sind nun ganz und gar warmgespielt. Die Kapitel fünf bis sieben waren Phaidra, Hippolytos mit Alkestis sowie Herakles gewidmet. Jan Fabre hat Mittel und Wege gefunden, die komplexen Stoffe der griechischen Mythologie auf Basis etwa der klassischen Stücke von Euripides so miteinander zu vernetzen, dass die anarchische Kraft der Erotik und die politischen Konsequenzen sexuellen Begehrens ins Zentrum seiner Hymne an den Tragödienkult rückten.

Entgrenzung der Zeit

Eines der prägendsten künstlerischen Mittel in diesem Marathonwerk und auch der Ausgangspunkt des 57-jährigen Choreografen ist die Entgrenzung der Zeit. Mit dem Effekt, dass das Publikum immer tiefer in die Welt der wüsten Leidenschaften hineingezogen wird und mit den zum Teil stark überdehnten Szenen zu leben lernt. Außerdem wählt es selbst, wie lange es dem Stück folgen möchte. Nach zwölf Stunden sitzen nur noch die Hartgesottensten in den Stühlen, andere schlafen auf von dem Festwochen bereitgestellten Matratzen und Feldbetten, viele sind zwischendurch nach Hause gegangen. Sie wollen später wiederkommen.

Ab 11 Uhr können die Besucherinnen und Besucher dann Agamemnon folgen, dem zwei Kapitel gewidmet sind, weiters Medea, Antigone und Ajax, bevor es im Schlussakt zum "Lovebattle" und einem choralen Ausklang kommt. Neben der Choreografie hat Jan Fabre, gemeinsam mit Jeroen Olyslaegers, die Texte geschrieben und an Licht und Kostümen mitgewrkt. Zu den Gastdramaturgen für "Mount Olympus" gehört auch der renommierte deutsche Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann. Soweit in der Halbzeit abzulesen war, hat der belgische Kunstworkaholic mit dieser Arbeit einen echten Höhepunkt in seiner Werkbiografie hingelegt.

Menschliche Selbstbeschädigung

Trotz mancher Platitüde zwischendurch gelingt es ihm, die Gegenwart in die teils umgearbeiteten klassischen Stoffe zu rammen. Denn das ständige Spiel mit finstersten und überschäumendsten Leidenschaften auf dem Schachbrett menschlicher Selbstbeschädigung ist diesem Stück zufolge heute so relevant wie vor zweitausend Jahren. Die künstlerische Überzeichnung trifft die Wirklichkeit punktgenau – auch wenn wir das nicht immer wahrhaben wollen. (Helmut Ploebst, 22.5.2016)