Das Wohnhaus aus dem Jahr 1915 wurde auf radikale Weise saniert

Die Ziegelfassade hat wahrlich schon bessere Zeiten erlebt. Der Putz hat sich verabschiedet, so mancher Stein rieselt vor sich hin, und die handgroßen Zementlöcher tragen zum konstruktiven Vertrauen auch nur bedingt bei. Unter normalen Umständen hätte man ein Haus wie dieses längst abgerissen, zumal hier, nur wenige Blocks von der Avenida Paulista entfernt, die das Zentrum diagonal durchquert und mittlerweile zu den teuersten Adressen der ganzen Stadt zählt.

"Die Innenstadt von São Paulo hat sich in den letzten Jahrzehnten so stark gewandelt, dass einige Straßen kaum wiederzuerkennen sind", sagt der brasilianische Architekt José Luis. "Manche Viertel sind wie ausgetauscht. Wo früher hübsche Stadtvillen standen, ragen nun moderne Bürohochhäuser und Luxuswohntürme in den Himmel. Diese lassen sich gewinnbringender vermarkten. Die alte Identität der Stadt wird so Stück für Stück vernichtet. Ich finde das bedauerlich."

Foto: Maira Acayaba

Die Casa Marília, eine greise Pracht mit ruinösem Charme, ist ein Beitrag, um dieser schleichenden Identitätsauflösung São Paulos entgegenzuwirken. Auf fast symbolträchtige Weise wurde das rund 100 Jahre alte Ziegelhaus in ein Korsett aus Stahlkrücken gepfercht. Das Bild ist einprägsam, vielleicht sogar ein bisschen schockierend. Vergangenen Donnerstag wurde die ungewöhnliche Revitalisierung im Herzen der brasilianischen Megametropole als eines von insgesamt sechs Projekten mit dem Wienerberger Brick Award 2016 ausgezeichnet.

Foto: Maira Acayaba

"Mit Ziegeln wird bereits seit mehr 2000 Jahren gebaut, und der Baustoff kommt nicht und nicht aus der Mode", sagte der Londoner Architekt Alfred Munkenbeck, der in der Jury saß und aus über 600 Einreichungen und 50 Projekten auf der Shortlist die sechs Sieger auserkor, im Rahmen der Preisverleihung. "Das Material ist immer noch im Einsatz, es ist immer noch langlebig, und es werden damit immer noch Innovationen gemacht. Es ist erstaunlich, auf wie unterschiedliche Weise der Ziegelstein heute eingesetzt wird."

Genau diese Vielfalt ist auch der Grund, warum der biennale Brick Award heuer bereits zum siebenten Male vergeben wurde. "Wir sind das weltweit führende Ziegelunternehmen", meint Heimo Scheuch, CEO der Wienerberger AG. "Und ich erachte es als unsere Verantwortung, die Entwicklungen auf diesem Gebiet zu würdigen und international sichtbar zu machen." Anhand der Gewinnerprojekte könne man sehr gut nachvollziehen, wie zeitlos der Baustoff Ziegel sei.

Foto: Maira Acayaba
Die weiteren Siegerprojekte: Bürohaus 2226 von baumschlager eberle in Lustenau.

"Dass die Casa Marília heute so aussieht, wie sie aussieht, ist kein Zufall", sagt Architekt José Luis vom brasilianischen Architekturbüro SuperLimão. "Das Haus war ganz normal verputzt und bis vor kurzem rosarot gestrichen. Man könnte sagen, es war unauffällig alt. Wir haben uns dazu entschieden, ihm zum 100. Geburtstag das Putzkleid abzunehmen und die nackte Konstruktion sichtbar zu machen, mit all ihren Schönheitsfehlern und baulichen Muttermalen, sozusagen als Ode an eine traditionelle Bauweise, die mehr und mehr in Vergessenheit gerät."

Zwischen den unverputzten Ziegelsteinen, zwischen all den fein geschmiedeten, rot lackieren Eisengittern und hölzernen Fensterläden, die in ihrer aufgeklappten Manier an Urgroßmutters Zeiten erinnern, prangt nun ein stählernes Gerüst aus handelsüblichen feuerverzinkten, miteinander verschraubten und verschweißten I-Trägern, die das Haus wie ein etwas grobschlächtiges Exoskelett umhüllen, Baumarktcharme inklusive.

Foto: Eduard Hueber
House 1014 von Harquitectes in Barcelona.

"Die bestehende Ziegelwand war zwar in der Lage, sich selbst zu tragen, doch damit war die maximale Belastung bereits erreicht", erklärt der Architekt. "Für die zweigeschoßige Aufstockung jedoch brauchte es eine zusätzliche Tragkonstruktion. Wir haben das Gestell sichtbar nach außen gestülpt. Das Alte ist vom Neuen getrennt. Das Moderne darf neben dem Historischen koexistieren. Keines der beiden ist besser, keines schlechter. Ich finde dieses Bild der Generationen wunderschön."

Das Innenleben des Hauses wurde entkernt und komplett neu organisiert. Die alten Wandziegel wurden demontiert, nummeriert, katalogisiert, von Mörtel und Bauschutt befreit und anschließend anhand der neuen Grundrisspläne wieder Stück für Stück aufgemauert. Um die Schwingungen zwischen innen und außen, zwischen stählernem Skelettbau und massivem Ziegelmauerwerk zu reduzieren, lagern die Verbindungselemente nun auf sogenannten Elastomeren. Üblicherweise kommen die Gummimatten im Brückenbau zum Einsatz.

Foto: Adria Goula
Termitory House von Tropical Space in Da Nang, Vietnam.

Anders als in der Vergangenheit verbirgt sich hinter der geheimnisvollen Ziegelfassade heute keine Privatwohnung, sondern das Büro des IT-Dienstleisters Plataformatec. Das junge Start-up-Unternehmen nutzt das eigenwillige Haus als Visitenkarte, um die versteckten Prozesse, um die konstruktiven digitalen Elemente, wie es meint, sichtbar zu machen. Sowohl im Altbau als auch auf den beiden obersten Etagen, die dem Haus in Stahl, Glas und Betonfertigteilen aufgesetzt wurden, lassen sich die baulichen Schichten der Casa Marília wie ein offenes Buch lesen.

Foto: Oki Hiroyuki
Cluster House von Duplex Architekten in Zürich.

"Die Behörden waren mit diesem Projekt ziemlich überfordert, und der Umbau des Hauses hat sich über viele Jahre gezogen", erklärt Luis. "Aber es hat sich ausgezahlt. Die Casa Marília ist kein singuläres Einzelprojekt, sondern eine Revitalisierung mit einer enormen symbolischen Strahlkraft. Ich würde mir wünschen, dass das Haus die Art und Weise, wie wir in Brasilien mit alten, historischen Bauten umgehen, nachhaltig verändern wird." Sehr erfrischend. Tiefgang noch dazu. Möge die hier zitierte Strahlkraft Mitteleuropa erreichen. (Wojciech Czaja, 22.5.2016)

Foto: Johannes Marburg
Auditorium AZ Groeninge von Dehullu Architecten in Kortrijk, Belgien.

Wienerberger (Hg.)
Brick 16
Ausgezeichnete Ziegelarchitektur international
Callwey-Verlag 2016
264 Seiten, 49,95 Euro

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