Dainius Gavenonis als Satin in "Dugne/Nachtasyl".

Foto: Dmitrijus Matvejevas

Wien – In Maxim Gorkis "Nachtasyl" schweißt unvorstellbare soziale Not eine Gruppe von Pennern und Schwätzern aneinander. Man spielt, säuft und hurt und liest einander die Leviten. Reste von Würde und Anstand gehen vor die Hunde. Und doch glimmt da ein unauslöschbares Gnadenlicht, das ein alter Pilger an das Häufchen Ausgegrenzter weiterreicht.

Der Greis verschwindet, und so bleiben die Asylanten im vierten Akt des Dramas mit sich und ihren Ansichten über das Menschsein allein. Der Moment des litauischen Theaters ist gekommen. Er dauert rund eine Stunde im Brut Theater im Künstlerhaus. Dort hat das Oskaras Korsunovas Theater (OKT) eine blitzblanke weiße Tafel aufgeschlagen. Eine Gruppe Ausgegrenzter blickt mehr oder minder erwartungsfroh ins Publikum.

Die Sandler bitten zum symbolischen Abendmahl, man teilt die Not und die Desperation bereitwillig mit den Festwochenbesuchern. In "Dugne/Nachtasyl" fehlt es nicht an Zeichen äußerster Zuvorkommenheit. Die ohnehin nichts haben, reichen auch noch ihre Argumente zur Wahrung der Menschenwürde an uns saturierte Wohlstandsbürger weiter.

Einige Thesen der Gorki-Figuren flimmern nervös über das Textlaufband. "Der Mensch ist frei!", heißt es da, oder: "Gegen den Tod gibt es keine Worte!" Es wird unverhohlen um die Zustimmung der Zuschauer geworben. Mit einem Mal ist die rührigste Humanismusdebatte als Bluff enttarnt. Denn allein mit schönen Worten – und mit dem unverschämt werbenden Lächeln der litauischen Schauspieler – ist kein Magen gefüllt, kein einziger Alkoholiker vom Suff genesen.

Das Theater aus Vilnius (Regie: Oskaras Korsunovas) stellt die Elendsrhetorik des sozialen Engagements höhnisch aus: ein beißender Moment der Entblößung. Dias zeigen litauisches Küstenland; die hennarote Gorki-Figur "Nastja" (Rasa Samuolyte), eine, die sich bevorzugt in den Gefilden des Kitsches aufhält, kokettiert besonders unverschämt mit einem jungen Herrn im Publikum.

Ganz allmählich betreten die Schauspieler festes Textgelände. Der vierte Akt von "Nachtasyl" wird von Figur zu Figur weitergereicht. Der Wodka zirkuliert, diverse Grammrationen erreichen auch das Publikum. Gläser splittern, ein smarter Bär von Tunichtgut (Dainius Gavenonis als Satin) hat auf den Tisch eingeprügelt. Das Gast- und Opfermahl derer, die ohnehin nichts haben, ist ein Angebot, das man schwer ausschlagen kann. Man blickt melancholisch auf ein ganzes Gebirge aus leeren Bierkisten.

Am Schluss ist die Figur namens "Schauspieler" (Darius Gumauskas) gestorben. Man hat schwerfällig ermittelt, worin der letzte Rest menschlicher Würde bestehen könnte, wenn die eigenen Antriebe zur Gänze erloschen sind. Die Ausgegrenzten und Devastierten werden weiterziehen durch die großen Städte, wo sie ihre Debattiertafeln aufschlagen, Gelage abhalten und in litauischer Sprache frei nach Gorki herumkrakeelen. Ein kleines Denkmodell, das den Wiener Festwochen kluges, großes Theater beschert. (Ronald Pohl, 24.5.2016)