Wien – Bundeskanzler Christian Kern will Flüchtlingen rascher einen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen. "Wir müssen gemeinsam überlegen, wie wir das beschleunigen können", sagte der designierte SPÖ-Vorsitzende im STANDARD-Interview. "Mir ist schon bewusst, dass das angesichts der Arbeitsmarktlage im Moment eine weitere Belastung bringt." Man müsse aber mit der Integration so früh wie möglich beginnen.

Das deutsche Modell, gemäß dem Flüchtlinge bereits drei Monate nach dem Stellen ihres Asylantrags und nicht erst nach dessen Anerkennung einen Job annehmen dürfen, bezeichnete Kern als "interessant".

Die mit dem Koalitionspartner getroffene Vereinbarung bezüglich der Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen will Kern einhalten. "Wir würden einen großen Fehler machen, das wieder aufzuschnüren." Bei Erreichen der Obergrenze spätestens im September würde die Notstandsverordnung greifen. Darüber werde gerade mit der ÖVP verhandelt. Eine Reduktion der Mindestsicherung für Ausländer lehnt Kern dagegen klar ab.

Der Kanzler geht davon aus, dass der SPÖ-Parteitag den Beschluss, es dürfe keine Zusammenarbeit mit der FPÖ geben, revidieren und einen Kriterienkatalog für den Umgang mit anderen Parteien formulieren werde.

Der neue Bundeskanzler Christian Kern will den Wahlerfolgen der FPÖ konkrete Lösungen gegenüberstellen und sich dann einen Koalitionspartner aussuchen können.
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STANDARD: Sie haben nach der Bundespräsidentenwahl gesagt: "Wir haben das verstanden." Was heißt das genau?

Kern: Wir müssen die Problemlagen genau anschauen und Lösungen dafür produzieren. Das Dilemma ist ja, dass wir einerseits eine Analyse haben, bei der wir uns sehr schnell finden. Die bezieht sich auf Investitionsschwäche, eine Nachfrageschwäche in der Wirtschaft, daraus resultierend ein Problem mit Arbeitslosigkeit, daraus resultierend ein Problem mit Wirtschaftswachstum und Inflation. Es gibt einfach ein paar objektive Baustellen, die man einmal konkret analysieren und benennen muss, dann muss man versuchen, so rasch als möglich Lösungen zu finden. Das Zweite, was wir auch verstanden haben, ist, dass wir politische Positionen, die wir für richtig halten, auch öffentlich argumentieren müssen. Ich teile die Analyse der Unzufriedenheit und glaube zu wissen, woher diese Unzufriedenheit kommt. Aber es war schon bemerkenswert, dass sich der Protest in eine Richtung entladen hat, bei der Probleme erst recht nicht zu lösen sind. Was wir erlebt haben, sind politische Konzeptionen, die Österreich nicht nur auf den Pannenstreifen führen, sondern direkt in die Schredderanlage. Dem muss man eine konkrete Politik entgegensetzen und andererseits die Auseinandersetzung mit politischen Lösungsvorschlägen suchen, die in Wahrheit nur Scheinlösungen sind.

STANDARD: Was hat für Sie jetzt Priorität?

Kern: Das Erste ist das Thema Wirtschaftsstandort, Arbeitsmarkt und Beschäftigung. Das halte ich für das wichtigste Bündel. Wir haben nicht so sehr ein Problem in der Analyse oder in der Maßnahmenentwicklung. Das Problem ist die Umsetzung, daran mangelt es.

STANDARD: Bis wann soll der New Deal stehen? Bis Herbst?

Kern: Das ist das Ziel, wobei ich meine, dass wir nicht bis Herbst warten können. Wir werden eine Reihe von Maßnahmen schon vorher vorschlagen. Aber mit der Frage, wie Österreich 2025 aussehen soll, werden wir gut beraten sein, einen ein bisschen längeren Nachdenkprozess zu haben.

STANDARD: SPÖ und ÖVP haben sich in der Bildungspolitik in den vergangenen Jahren blockiert. Welche konkreten Reformschritte planen Sie? Die SPÖ hat zuletzt ganz vehement die Gesamtschule gefordert. Ist das auch Ihr Anliegen?

Kern: Wir müssen uns von Dogmen trennen. Das muss in allererster Linie im Bildungsbereich passieren, und das gilt für alle Seiten. Bildungs- und Innovationspolitik sind auch die beste Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Das steht außer Streit. Aber wenn ich mich jetzt nach wenigen Tagen im Amt hinstellen und Ihnen erklären würde, dass wir bereits für alle Probleme Lösungen haben, dann wäre das Scharlatanerie. Wir brauchen keine hundert Tage, aber ein bisschen mehr als hundert Stunden.

"Der Protest hat sich in eine Richtung entladen, bei der keine Lösungen angeboten werden, sondern Zustände verschlechtert werden. Das muss man herausarbeiten. Van der Bellen steht für eine positive Politik, er steht für eine Politik der Chancen, er steht für eine Politik der Hoffnung und nicht für eine Politik der Verzweiflung."
Foto: Cremer

STANDARD: Sie verstehen sich offensichtlich ganz gut mit dem Vizekanzler Reinhold Mitterlehner. Hat er Ihnen schon Bewegung angedeutet?

Kern: Nicht nur angedeutet. Es ist uns beiden bewusst, dass wir hier spürbare Fortschritte brauchen. Wir haben da gar keine Wahlmöglichkeit. Wenn Sie sich den Vertrauensverlust anschauen, der hier eingetreten ist, dann geht es nur noch um die Frage, ob wir hier gegensteuern oder ob wir dem Prozess der Auflösung zuschauen. Letzteres werden wir ganz sicher nicht tun. Ich glaube auch, dass wir sehr schnell wieder zu deutlich mehr Zustimmung der Wähler kommen. Das ist meine Haupterkenntnis aus der Bundespräsidentenwahl. Eine Spaltung halte ich für eine falsche Analyse. Der Wählermarkt wird bunter. Die Leute sind bereit, ihre Positionen gegenüber Kandidaten und Inhalten anzupassen. Und das ist eine Riesenchance. Nicht nur für die FPÖ, sondern auch für uns. Der Protest hat sich in eine Richtung entladen, bei der keine Lösungen angeboten, sondern Zustände verschlechtert werden. Das herauszuarbeiten, halte ich für ganz wichtig: diese Argumentation zu führen, das klarzumachen. Dieser Kampf um die Hegemonie im Land hat mit dieser Bundespräsidentenwahl erst richtig begonnen.

STANDARD: Wird es einen Kriterienkatalog für den Umgang mit anderen Parteien geben, wie Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser das vorgeschlagen hat?

Kern: Ich halte das für sehr vernünftig. Das, was wir derzeit in den Umfragen haben, muss längst nicht das Limit für eine SPÖ sein. Wir müssen den Führungsanspruch mit sozialdemokratischen Ideen in modernem Gewand stellen. Danach werden wir eine Situation haben, dass sich die anderen an uns zu orientieren haben. Dann werden wir definieren, was Kriterien sind, die jemand erfüllen muss, der mit uns zusammenarbeiten will. Dazu gehört ein klares Bekenntnis zu Europa, ein klares Bekenntnis zu Patriotismus versus Chauvinismus, und da gehört der Kern der Vranitzky-Theorie dazu, nämlich dass wir nicht mit Parteien zusammenarbeiten, die gegen Minderheiten hetzen oder die Menschen aufgrund von Kultur, Herkunft, Vornamen diskriminieren. Das ist ein No-Go. Wenn Sie jetzt fragen, ob die FPÖ in der heutigen Form jemand ist, der diesen Katalog erfüllt, dann würde ich sagen: Das glaube ich nicht.

STANDARD: Auf Bundesebene.

Kern: Auf Bundesebene. Auf Gemeindeebene ist es, wie wir wissen, längst anders.

STANDARD: Wird der Beschluss, nicht mit der FPÖ zu koalieren, offiziell fallen?

Kern: Ich gehe davon aus, dass das der Vorschlag sein wird, weil der Beschluss bei weitem die Realitäten nicht mehr abbildet, weder auf Gemeinde- noch auf Länderebene. Das heißt, der Beschluss ist in Wahrheit schon gefallen.

STANDARD: In der ÖVP meinen manche, Kern wird den Zauber des Neubeginns nutzen, um die guten Umfragewerte noch etwas besser werden zu lassen, und dann von sich aus vorzeitig in Neuwahlen gehen.

Kern: Als ich mich entschlossen habe, das zu tun, war meine Einschätzung immer glasklar, dass sich in diesem Land etwas zum Besseren wenden muss. Wenn man anfangen würde, auf Umfragewerte zu schielen oder taktische Spielchen zu beginnen, ist man denkbar schlecht beraten. Die Periode läuft bis Ende 2018. Wir sollten bis zum letzten Tag versuchen, Dinge voranzubringen.

STANDARD: Sie bekommen nun ein neues Gegenüber in der Hofburg, wird es da auch eine neue Form der Zusammenarbeit geben?

Kern: Ich habe Van der Bellen gewählt. Das ist aus meiner Sicht eine erfreuliche Wahlentscheidung gewesen. Van der Bellen hat einen Politikansatz, der ähnlich ist wie unserer. Van der Bellen steht für eine positive Politik, er steht für eine Politik der Chancen, er steht für eine Politik der Hoffnung und nicht für eine Politik der Verzweiflung und der Abwertung von Minderheiten. Insofern gibt es einmal einen Wertekonsens, der uns verbindet.

"Wir können kein Interesse daran haben, die Leute in die Illegalität zu drängen, der Kleinkriminalität auszusetzen, ihnen keine Beschäftigung zu geben. Die Menschen sind da. Wenn wir ihnen keine Perspektive geben, dann werden wir Phänomene produzieren, die wir erst recht nicht wollen."
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STANDARD: In Deutschland darf ein Flüchtling schon drei Monate nach einem Asylantrag arbeiten. Wäre das eine Regelung, die man hier auch umsetzen soll?

Kern: Wir müssen gemeinsam überlegen, wie wir das beschleunigen können. Wir können kein Interesse daran haben, die Leute in die Illegalität zu drängen, der Kleinkriminalität auszusetzen, ihnen keine Beschäftigung zu geben. Die Menschen sind da. Wenn wir ihnen keine Perspektive geben, dann werden wir Phänomene produzieren, die wir erst recht nicht wollen. Man muss sich ganz genau anschauen, wie man den Flüchtlingen am Arbeitsmarkt, auch im Rahmen der Bildung und im Rahmen der Gesundheit, eine Perspektive geben kann. Mir ist schon bewusst, dass das angesichts der Arbeitsmarktlage im Moment eine weitere Belastung bringt, das ist ganz klar. Aber wir müssen uns die Frage stellen, welchen Preis das hat, wenn wir diese Frage nicht positiv beantworten. Und dann wird man eine Abwägung vorzunehmen haben. Aber es ist klar, dass wir, wenn die Menschen hier sind, gut beraten sind, mit der Integration so früh als möglich zu beginnen.

STANDARD: Im August, spätestens im September wird die Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen erreicht sein. Was passiert dann mit den Menschen, die noch an die Grenze kommen?

Kern: Die entscheidende Frage ist, wie viele Menschen wir bei uns aufnehmen können. Die Einschätzung ist bisher gewesen, dass das die 37.500 sind. Das ist ein Richtwert. Das ist sinnvoll, ich will auch an diesem Richtwert festhalten. Alles, was bislang beschlossen worden ist, erfährt meine vollumfängliche Unterstützung. Wir würden einen großen Fehler machen, das wieder aufzuschnüren. Die 37.500 sind der Richtwert, zu dem wir stehen und den wir auch einzuhalten gedenken.

STANDARD: Und dann tritt die Notstandsverordnung in Kraft?

Kern: Das verhandeln wir gerade mit der ÖVP. Die Notstandsverordnung ist das äußerste Mittel, das zur Verfügung steht. Wenn wir das machen, muss es auch funktionieren. Dann stellt sich die Frage, wie die Asylverfahren zu handhaben sind, um den Zufluss nach Österreich zu reduzieren. Es müssen auch enorme Anstrengungen gesetzt werden, um die Rückführungen möglich zu machen. Das muss funktionieren. Es hat keinen Sinn, wenn wir sagen, wir schicken die abgelehnten Asylwerber zurück, und haben keinen Weg, wie das gehen kann.

STANDARD: Die ÖVP fordert eine Deckelung für den Bezug der Mindestsicherung und einen reduzierten Zugang für ausländische Staatsbürger, also für Flüchtlinge. Was ist denn da Ihre Position?

Kern: Wir sind sehr gut beraten, ein stabiles Netz der sozialen Sicherheit aufzubauen. Eine Deckelung der Mindestsicherung kommt für uns nicht infrage. Ich will da keine Dogmen formulieren. Aber wenn man sich die Zahlen anschaut, um die es da geht, dann ist das keine Überdotierung. Da hängt keiner in der Hängematte drinnen.

STANDARD: Sollen Ausländer anders behandelt werden als Inländer?

Kern: Ich würde eine Differenzierung nicht wollen. Es gibt einen Asylstatus. Wir können die Menschen, die das Asylverfahren absolviert haben, nicht als Bürger zweiter Klasse behandeln. Da schaffen wir uns die nächsten sozialen Probleme. Die spannendere Frage wird allerdings sein, wie wir langfristig die Finanzierung sicherstellen und wie wir eine wirtschaftliche Dynamik sicherstellen, damit möglichst wenige Leute die Mindestsicherung beanspruchen müssen. (Alexandra Föderl-Schmid, Michael Völker, 24.5.2016)