Der kleine Emil mit seinen Ärzten Nils-Claudius Gellrich, Majeed Rana, Elvis Josef Hermann und Kurt Krauss.

Foto: MHH/Kaiser

Inzwischen hat Emil seinen ersten Geburtstag gefeiert. Auf dem Foto ist er mit seinen Eltern Katharina und Oliver T.

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Die sogenannte Kraniosynostose tritt rein statistisch bei nur einem von 2.000 Kindern auf. Dabei handelt es sich um den vorzeitigen Verschluss einer oder mehrerer Schädelnähte. Normalerweise bleiben diese in den ersten Lebensjahren flexibel, damit der Kopf und das Gehirn wachsen und sich entwickeln können. "Durch die zu frühe Verknöcherung der Schädelnähte hat das Gehirn nicht genügend Platz zu wachsen", erklärt Majeed Rana, stellvertretender Ärztlicher Direktor für den Bereich der rekonstruktiven Gesichtschirurgie der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie in Hannover.

Die Ursache für eine Kraniosynostose ist in den meisten Fällen unklar. Wird die Erkrankung nicht behandelt, kann es zu asymmetrischen Verformungen des Schädels, Entwicklungsstörungen des Gehirns, neurologischen Ausfällen und Sehstörungen kommen. Es gibt unterschiedliche Varianten der Erkrankung. In den meisten Fällen ist die sogenannte Pfeilnaht über dem Scheitel verschlossen. So war es auch bei Emil.

Chirurgen der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (MKG) und der Klinik für Neurochirurgie haben den Schädel des Jungen dreidimensional am Computer rekonstruiert und ihm im November 2015 bei einer Operation ein neuartiges Netz implantiert. Das Material wird vom Körper resorbiert, das Implantat löst sich nach einigen Monaten auf und wird durch körpereigene Knochen ersetzt. Der Schädel kann sich dadurch "normal" entwickeln. Es war der erste Eingriff nach dieser Methode weltweit. Bei der Operation war Emil fünf Monate alt, inzwischen hat er seinen ersten Geburtstag gefeiert, und es geht ihm gut.

Zu frühe Verknöcherung

"Dass der Kopf ein klein wenig verformt war, war uns schon kurz nach der Geburt aufgefallen", berichtet Emils Vater, Oliver T. Doch da das bei Neugeborenen nicht ungewöhnlich ist, warteten er und seine Frau Katharina erst einmal ab. "Unsere Hebamme hat uns dann empfohlen, ihn doch mal von einem Spezialisten untersuchen zu lassen", erinnert sich der Vater. Im Alter von sechs Wochen stellten die Eltern Emil bei Rana und seinem Kollegen Elvis Josef Hermann, leitender Oberarzt und Leiter der Pädiatrischen Neurochirurgie der Klinik für Neurochirurgie, vor. "Die Deformierung hatte zugenommen, der Schädel war zu sehr in die Länge gewachsen. Durch bildgebende Verfahren konnte die Kraniosynostose weiter verifiziert werden", erklärt der Neurochirurg.

Bei dem herkömmlichen Operationsverfahren wird die verschlossene Naht aus dem Schädel herausgesägt, um mehr Flexibilität für den Schädel und mehr Platz für das Gehirn zu schaffen. "Mit dieser Methode können gute Erfolge erzielt werden, manchmal bleibt jedoch eine leichte Deformierung bestehen", erläutert Hermann. Die Chirurgen schlugen den Eltern deshalb eine neue Operationsmethode vor. Mit Hilfe von 3D-Berechnungen ermittelte ein Medizintechnik-Ingenieur die optimale Kopfform für Emil und erstellte auf Grundlage dieser Daten eine Schnittschablone und das genau an den kleinen Patienten angepasste Netzimplantat. Die Herstellung eines patientenspezifischen Schädelimplantats aus bioresorbierbarem Material mithilfe einer computer-assistierten Rekonstruktion ist völlig neu.

Implantat lenkt das Schädelwachstum

Während des Eingriffs wurden die verschlossene Schädelnaht und weitere keilförmige Stücke nach der angefertigten Schablone exakt symmetrisch aus Emils Schädeldecke herausgesägt. Darüber setzten die Chirurgen das neuartige Netz und legten die Kopfhaut wieder darüber. "Das Netz fungiert als Leitstruktur für die nachwachsenden Knochenzellen", erklärt Rana. "Die Schädelknochen wachsen langsam in der gewünschten Form nach und verschließen die Lücken irgendwann vollständig. Das Netz löst sich mit der Zeit auf." So lässt sich das Schädelwachstum lenken, die Entwicklung der Form nahezu voraussagen.

Wie schnell das Implantat resorbiert werden soll, kann bei der Herstellung beeinflusst werden. In den ersten acht Wochen nach dem Eingriff gibt das Netz in erster Linie Stabilität, danach wird es flexibler, damit sich das Gehirn entfalten kann. Nach acht bis zwölf Monaten soll es vollständig aufgelöst sein. "Der große Vorteil liegt darin, dass wir das Wachstum des Schädels lenken können. Wir können dafür sorgen, dass er sich möglichst symmetrisch entwickelt und dadurch ein optimales kosmetisches Ergebnis erzielt wird."

Alles entwickelt sich wie geplant

Emil hat sich seit seiner Operation ganz normal entwickelt. Der einjährige Junge fängt gerade an zu laufen und spricht schon die ersten Worte. "Außerdem ist er sehr musikalisch", freut sich der Vater. Mit dem Schädelwachstum des kleinen Jungen sind die Ärzte bisher sehr zufrieden. "Alles entwickelt sich wie geplant", stellt Rana fest. Das symmetrische Wachstum des Kopfes löst nicht nur die funktionellen organischen Probleme der betroffenen Kinder, sondern hat auch wichtige ästhetische Effekte – ein normal geformter Kopf gibt keinen Anlass für Hänseleien oder Stigmatisierungen.

Dem resorbierbaren Implantatmaterial aus Polyglycolid räumen die Chirurgen gute Zukunftschancen ein. "Es wird auch in anderen Bereichen der Schädelchirurgie Eingang finden", ist sich Joachim Kurt Krauss, Direktor der Klinik für Neurochirurgie sicher. "Durch seine Eigenschaften hat das Material viele Vorteile gegenüber Implantaten aus Metall und Kunststoff." Diese Eigenschaften könnten beispielsweise auch bei der Behandlung von Tumor-Patienten oder von Unfallopfern dazu beitragen, wiederholte operative Eingriffe zu vermeiden. (idw, red, 31.5.2016)