Die "Küchenskulptur" wird während des Festivals in einem dynamischen Prozess genutzt, erbaut und wieder zerlegt.

Foto: mostlikely

Kindsheitserinnerungen, ausgelöst durch den Geschmack von Anis.

Anna Misovicz / Taste of Home

Der Paradeiser ist Teil der Installation "In Memoriam" des Künstlers El Seroui und beschäftigt sich mit Gentechnik in der Lebensmittelindustrie.

Foto: Soho in Ottakring

Wien – Der Protagonist von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" kommt eines Winterabends nach Hause und bekommt von seiner Mutter eine Tasse Tee und ein "dickes ovales Sandtörtchen", eine Madeleine, aufgetischt. Als der erste, "mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee" seinen Gaumen berührt, überkommt ihn "ein unerhörtes Glücksgefühl". Er trinkt einen zweiten und dritten Schluck, fragt sich, warum dieses Gefühl in ihm entsteht – und auf einmal erinnert er sich: Der Geschmack ist der jener Madeleine, die ihm in seiner Kindheit seine Tante Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren Lindenblütentee getaucht hatte.

Diese Beschreibung einer durch einen Geschmack unwillkürlich ausgelösten Erinnerung aus Marcel Prousts Roman, entstanden zu Beginn des 20. Jahrhunderts, war die Inspiration für das Kunstprojekt Taste of Home, das ab Samstag im Rahmen des Festivals Soho in Ottakring im Alten Kino Sandleiten im 16. Wiener Gemeindebezirk zu sehen und mitzugestalten ist.

Gefühl von Zuhause

Ausstellungsbesucher werden aufgefordert, einen Geschmack, der in ihnen das Gefühl von Zuhause weckt, auf Papier festzuhalten und in ein Einmachglas zu legen. Die in Wien und Budapest ansässigen Projektinitiatoren – Social-Designerin Anna Misovicz, Food-Designerin Angéla Góg und Grafiker Ferenc Forrai – befestigen die Zettel mit geschmacklichen Erinnerungen an der Wand und füllen stattdessen den beschriebenen Inhalt, etwa ein Gewürz oder eine Ingredienz, in die Einmachgläser.

Zur Eröffnung sowie zur Finissage von "Soho in Ottakring" am 4. beziehungsweise 18. Juni wird aus den gesammelten Zutaten ein Backwerk kreiert: Essen soll als Auslöser für den Austausch persönlicher Erinnerung dienen – "abseits von Nationalitäten" oder von für ein Land typischen Speisen: "Für jeden bedeutet Zuhause etwas ganz anderes. Das Verbindende ist die ausgelöste Emotion", sagt Misovicz.

Dynamische Skulptur

Partizipativ ist auch die "Küchenskulptur", die sich aus dem Alten Kino nach außen auf die Straße erstreckt: Die meterlange, rotlackierte Holzkonstruktion des Architektenkollektivs Mostlikely ist Tisch, Sitzgelegenheit und Bühne zugleich. Sie soll zum Zusammensitzen und zum Austausch einladen und wird in einer "temporären Werkstätte" vor Ort mit Anrainern, Flüchtlingen und Festivalbesuchern erbaut und sogleich wieder zerlegt. Zum Schluss verwandelt sich die dynamische Skulptur mit praktischer Funktion in dutzende Holzhocker, die gegen eine Materialspende mit nach Hause genommen werden können.

Das Festival Soho in Ottakring, das sich heuer unter dem Titel "In aller Munde" dem Essen aus unterschiedlichsten Blickwinkeln widmet – von der smarten Küche, über die Geschichte des Kaffees bis zur Agrarindustrie –, fand 2014 erstmals im Sandleitenhof statt. Der Gemeindebau gehört mit seinen mehr als 4.000 Bewohnern zu den größten Wiens.

Bezirk für "ständige Bespielung"

Als Festivalschauplätze dienen unter anderen der ehemalige Kino- und Theatersaal in der Liebknechtgasse sowie die einstige Waschküche der Wohnhausanlage. Letztere beherbergte bis 2002 das Elektropathologische Museum, dessen Archiv später in das Technische Museum übersiedelt wurde. Das Alte Kino bot bis 1966 Platz für 600 Zuschauer. In den 1990er-Jahren befand sich in dem Gebäude eine Konsum-Filiale.

Die Räumlichkeiten stehen heute meist leer. Franz Prokop (SPÖ), Bezirksvorsteher des 16. Bezirks, äußerte am Donnerstag den Wunsch, sie häufiger zu nutzen. Er sprach sich für eine "ständige Bespielung" aus. (Christa Minkin, 3.6.2016)