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Die Brücke von Varvarin, fotografiert einen Tag nach der Zerstörung, am 31. Mai 1999.

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"Ich verstehe nicht, warum sie ausgerechnet uns bombardiert haben. Warum haben sie so viele unschuldige Menschen getötet, statt einfach Milošević umbringen zu lassen?", fragt Zoran Milenković.

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Das Grab von Zoran und Vesna Milenkovićs Tochter besteht aus einem Häuschen und einem kleinen Vorplatz. An der Wand hängen Bilder von Sanja.

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Vesna und Zoran Milenković (rechts) mit anderen Einwohnern Varvarins am deutschen Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Ihre Klage wurde am 2. November 2006 abgewiesen.

Foto: EPA / ronald Wittek

Varvarin – Zoran Milenković steht im Regen am Grab seiner Tochter und zündet eine Kerze an. "Sanja wäre heute 32 Jahre alt und hätte sicherlich die Universität abgeschlossen", sagt er. Das Grab besteht aus einem Häuschen und einem kleinen Vorplatz. An der Wand hängen Bilder von Sanja. Sie zeigen sie beim Sommerurlaub am Strand und bei Familienfesten. "Sie war sehr gut in Mathematik", sagt ihr Vater, "aber dann kam alles anders." Der Grund dafür findet sich an einer Grabtafel, auf der in kyrillischen Lettern geschrieben steht: "Im Gedenken an die Opfer der Nato-Bombardierung vom 30. Mai 1999."

Als am 24. März 1999 die Bombardierung Serbiens durch die Nato begonnen hatte, holte der Bürgermeister Zoran Milenković seine Tochter nach Varvarin zurück. Die damals 15-jährige Sanja besuchte die neunte Klasse eines mathematischen Gymnasiums in der serbischen Hauptstadt. "Hier war es sicherer als in Belgrad, sie hatten ja keinen Grund, unser kleines Städtchen zu bombardieren", sagt Milenković heute.

Varvarin liegt an dem Fluss Morava, 80 Kilometer nördlich der Großstadt Niš. Viele Menschen hier arbeiten in landwirtschaftlichen Kleinbetrieben, die nach Russland exportieren. Während der Erntezeit kommen heute noch Saisonarbeiter aus dem benachbarten EU-Land Bulgarien, um sich etwas Geld dazuzuverdienen.

Keine Kapitulation

Im Jahr 1999 gab es in Varvarin keine Luftabwehr, keine Kaserne und kein militärisches Gerät. Es gab nur eine Brücke, über die, so behauptet es die Nato, Nachschub für Milosevićs Truppen im Kosovo transportiert wurde. Die Bewohner sagen aber, die Brücke sei für den Nachschub bedeutungslos gewesen. Obwohl die serbische Luftabwehr bereits nach kürzester Zeit geschlagen war und den Nato-Bombern nichts mehr entgegenzusetzen hatte, weigerte sich der damalige Präsident Slobodan Milošević, bedingungslos zu kapitulieren und seine Armee aus dem Kosovo zurückzuziehen. Nachdem die militärischen Ziele in der Bundesrepublik Jugoslawien ausgeschaltet waren, begann die Nato deshalb vermehrt damit, zivile Ziele zu bombardieren.

Trotz des Regens zündet sich Zoran Milenković eine Zigarette an. Er läuft über die Brücke, die wiederaufgebaut wurde. Seine grauen Haare und seine Jacke werden nass, als er beginnt zu erzählen, was hier am 30. Mai 1999 passiert ist. An diesem Sonntag schien die Sonne, keine einzige Wolke war am Himmel. Die Bewohner Varvarins gingen in die Kirche, um das christlich-orthodoxe Dreifaltigkeitsfest zu feiern. Auf dem Markt boten die vielen Landwirte die berühmten Feldfrüchte aus der Region an.

Sanja verblutet

Sanja überquert mit zwei Freundinnen die Brücke, um den Markt zu besuchen, als zwei Bomber am Horizont auftauchen. Außer ihnen befindet sich noch ein Auto auf der Brücke. Die beiden Insassen kamen vom Markt und waren auf dem Weg nach Hause. Um 13.01 trifft eine Bombe den Mittelpfeiler der Brücke, die in sich zusammenbricht. Die drei Mädchen klammern sich an dem Brückengeländer fest, um nicht in die Morava zu fallen. Vom nahe gelegenen Markt laufen die Menschen zum Ufer, um den Mädchen und den anderen zu Hilfe zu kommen. Die F-16 fliegt über die Brücke und wirft eine zweite Bombe ab. Zehn Tote, 27 Verletzte. Die 15-jährige Sanja Milenković verblutet auf dem Weg ins Krankenhaus.

"Der Sieg über das Böse hat immer seinen Preis" – mit diesen Worten rechtfertigte der damalige Nato-Sprecher Jamie Shea die Bombardierung der Brücke Varvarins. Er war es auch, der den Begriff "Kollateralschaden" für unschuldige Opfer im Militärjargon etablierte. Die Brücke von Varvarin sei ein "legitimes militärisches Ziel" gewesen.

Heute erinnert ein Denkmal neben der neuen Brücke an die zehn Toten. Auf dem Denkmal ist ein Zirkel abgebildet, der sich rund um einen Globus spannt. In Erinnerung daran, dass Sanja Mathematik liebte und noch die ganze Welt sehen wollte.

"Ich verstehe nicht, warum sie ausgerechnet uns bombardiert haben. Warum haben sie so viele unschuldige Menschen getötet, statt einfach Milošević umbringen zu lassen?", fragt Zoran Milenković mit überraschender Ruhe in der Stimme. Der Bürgermeister stand 1999 in Opposition zum Milošević-Regime. Der Diktator war in Varvarin unbeliebt. "Sie hätten das auch anders regeln können. Serbien ist das einzige europäische Land, das jemals von der Nato bombardiert wurde."

Die Mutter klagt

Sanja hatte das Gesicht ihrer Mutter geerbt. Vesna Milenković trifft sich mit ihrem Exmann unweit der Brücke auf einen Kaffee. Sie ist sichtlich müde von den Prozessen, die sie in Deutschland geführt hat. Im Gegensatz zu ihrem Exmann ist Sanjas Mutter die Verbitterung über den Tod ihrer noch Tochter deutlich anzusehen. Man hört sie aus jedem Wort heraus: "Manche Piloten haben Projektile zur Warnung abgeschossen, doch dieser nicht", sagt sie. "Die Brücke war kein militärisches Ziel, sie wollten einfach Zivilisten umbringen." Anders kann sich Sanjas Mutter nicht erklären, warum ausgerechnet an einem Sonntag, einem orthodoxen Feiertag, um 13 Uhr gebombt wurde. Wäre es wirklich um die Brücke gegangen, dann hätte man sie doch auch nachts zerstören können, wenn keine Menschen dort gewesen wären.

Vesna Milenković klagte mit anderen Bürgern Varvarins vor dem Bonner Landgericht, weil sie Deutsch spricht und es dort Anwälte und Aktivisten gab wie den Berliner Harald Kampffmeyer, die bereit waren zu helfen. Sie sagt: "Wir wollen kein Geld. Wir wollen nur wissen, wer an diesem Tag entschieden hat, unsere Tochter zu ermorden." Sie wissen bis heute nicht einmal, aus welchem Land der Bomber kam. Sie wissen nicht, wer den Befehl dazu gegeben hat. Die Nato gibt diese Informationen nicht heraus. Das Landgericht wies sie 2003 mit der Begründung ab, Einzelpersonen könnten nicht wegen Kriegsgeschehnissen gegen einen Staat klagen. Auch der deutsche Bundesgerichtshof in Karlsruhe wies die Klage von 35 zivilen Opfern am 2. November 2006 ab.

Die Ohnmacht macht Vesna Milenković wütend: "Es ist, als wäre es gestern geschehen, auch wenn es nun 17 Jahre her ist." Sie tippt mit dem Zeigefinger an ihr Herz: "Es fühlt sich so schwer an." Nach einem schnellen Kaffee geht sie wieder. Sie ist müde davon, der Welt zu erklären, welche Ungerechtigkeit ihr angetan wurde.

EU oder Russland

Trotz seines Verlusts glaubt Zoran Milenković an eine Zukunft Serbiens in der EU. Auch wenn sich an der Bombardierung EU-Länder beteiligt haben. Er nennt die Vorteile, die eine Mitgliedschaft bringen würde: Stabilität, wirtschaftlichen Aufschwung, Investitionen in Infrastruktur. Doch nicht allen im Café gefällt das. Ein Mann schreit über drei Tische zu ihm herüber: "Wir wollen nicht in die EU, aber uns fragt ja niemand", während er drei Finger in die Luft hält. "Wohin willst du dann?", entgegnet Milenković. Der Mann sagt: "Wir wollen enger an Mütterchen Russland rücken, die haben uns wenigstens nicht bombardiert." (Krsto Lazarević, 10.6.2016)