Drucksituationen an Grenzen belasten Staat und Personal.

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Welche Auswirkungen Migration auf das Rechtssystem hat und wie das Recht darauf reagiert, erklärt Magdalena Pöschl, Professorin am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht. In der "Semesterfrage", die die Universität Wien gemeinsam mit derStandard.at stellt, geht sie auf Fragen der Poster ein, die in dem Beitrag "Wie Migration das Rechtssystem unter Stress setzt" gestellt wurden.

Migration ist vielschichtig: Man kann sie unter ganz verschiedenen Perspektiven betrachten und in jeder dieser Perspektiven ambivalent bewerten. Das macht es schwierig, sie zu regulieren. Zudem ist der Gesetzgeber hier durch Völker-, Unions- und Verfassungsrecht vielfach eingeschränkt. Oft ist Migrationsrecht auch schwer durchzusetzen, manchmal stößt der Staat dabei schlicht an Kapazitätsgrenzen. So ist eine Massenflucht, wie sie Österreich im Herbst 2015 erreicht hat, für den Staat enorm schwer zu bewältigen. Dass ein Staatsorgan nicht auf Schutzsuchende schießen darf, um sie am Grenzübertritt zu hindern, hat User Steril Senil sichtlich irritiert:

"Ein Massenansturm auf eine Staatsgrenze ist rechtlich ein Angriff, egal ob bewaffnet oder unbewaffnet. Recht, das nicht durchgesetzt werden kann, ist leere Phrasendrescherei.
Und in allen Epochen – auch in den demokratischen – ist selbstverständlich anerkannt, dass zur Durchsetzung auch Zwangsmittel notwendig sind.
Jeder Polizist hat genaue Vorgaben, wann er von der Schusswaffe Gebrauch machen darf/soll. Es ist aber eben auch klar, dass er das ab einem gewissen Punkt macht.
Es ist mir völlig unerklärlich, warum plötzlich (diese Ansicht ist ja erst sehr jung) ein Staat bei der Sicherung seiner Grenzen keine Zwangsmittel anwenden darf. Das gleiche gilt für die EU. Entweder gibt es Grenzen, dann sind sie zu schützen, oder wir lassen es und sparen uns das Geld."

Magdalena Pöschl: Sie sagen richtig, dass Recht mit Zwang durchgesetzt wird, auch in Demokratien. Zwang kann aber unterschiedlich massiv sein: Ein Staatsorgan kann sich einem Menschen bloß in den Weg stellen, ihm den Ausweis abnehmen, ihn von einem Ort wegweisen, ihn in ein Flugzeug setzen und abschieben, ihn festnehmen, einsperren, dabei womöglich verletzen – und tatsächlich kann ein Staatsorgan auf Menschen auch schießen. Lebensgefährdende Gewalt darf der Staat nach der Europäischen Menschenrechtskonvention aber nur in Extremfällen einsetzen. Daher erlaubt das Waffengebrauchsgesetz den Einsatz einer Schusswaffe nur, wenn er unbedingt notwendig ist, um

  • in gerechter Notwehr oder Nothilfe einen Menschen zu verteidigen;
  • einen Aufstand oder Aufruhr zu unterdrücken;
  • die Anhaltung eines allgemein gefährlichen psychisch Kranken oder
  • einer allgemein gefährlichen Person zu erzwingen, die dringend verdächtig ist, ein schweres gerichtlich strafbares Delikt begangen zu haben.

Gemeinsam ist diesen vier Fällen, dass von einer Person Gewalt ausgeht: Darauf darf der Staat mit der Schusswaffe reagieren, und auch das nur, wenn ihm gelindere Maßnahmen nicht möglich sind. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, wenn Menschen nur über die Staatsgrenze gehen. Daran ändert sich auch nichts, wenn das viele Menschen tun.

Dass ein Staatsorgan auf diese Menschen nicht schießen darf, heißt keineswegs, dass man sie am Grenzübertritt nicht hindern kann: Der Staat kann seine Grenzen ja mit gelinderen Mitteln kontrollieren, insbesondere mit baulichen Maßnahmen und durch ausreichendes Personal. Darauf muss er aber vorbereitet sein. Ist er das nicht, wird die Durchsetzung des Migrationsrechts defizitär.

Nun kann man weiter fragen, inwieweit der Staat verpflichtet ist, sich auf solche Situationen durch ein "Grenzmanagement" rechtzeitig vorzubereiten, und, wenn ja, was passiert, wenn er diese Pflicht verletzt. Dazu will User kjhg mehr wissen:

"Kann der Staat eigentlich auf Einhaltung seiner eigenen Gesetze bzw. Wahrnehmung seiner verfassungsgemäßen Aufgaben verklagt werden?"

Pöschl: Der Schengener Grenzkodex sieht vor, dass die Außengrenzen des sogenannten Schengenraums zu kontrollieren sind, die Binnengrenzen sollen hingegen grundsätzlich frei passierbar sein. Da Österreich seit der Osterweiterung der EU nur mehr von Schengenstaaten umgeben ist, gibt es an unseren Staatsgrenzen seit einigen Jahren keine systematischen Kontrollen mehr. Der Schengener Grenzkodex erlaubt aber die Wiedereinführung von Grenzkontrollen als letztes Mittel, wenn die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit ernsthaft bedroht ist. Diese Möglichkeit nützt Österreich seit dem 16. September 2015. Ob das rechtzeitig war und ob die Grenzkontrollen intensiv genug sind, ist derzeit Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens. Die FPÖ hat nämlich Johanna Mikl-Leitner, Werner Faymann, Gerald Klug und Verantwortliche der ÖBB im November 2015 wegen Missbrauchs der Amtsgewalt angezeigt. Im Wesentlichen erhebt die FPÖ den Vorwurf, die polizeiliche Praxis ignoriere bewusst das Grenzkontroll- und Fremdenpolizeirecht.

Eine solche Strafanzeige kann jeder Bürger erstatten, zum Beispiel auch User kjhg. Daneben könnte man noch an eine Amtshaftungsklage denken. Sie wäre erfolgreich, hätten die genannten Minister jemandem durch ein rechtswidriges Verhalten schuldhaft einen persönlichen Schaden, zum Beispiel an seinem Grundstück, zugefügt. Diesen Schaden müsste der Bund ersetzen.

Im Interesse der Allgemeinheit kann außerdem die Volksanwaltschaft Missstände in der Verwaltung prüfen: Bei der Grenzkontrolle in Spielfeld beanstandete etwa Volksanwalt Peter Fichtenbauer, dass Flüchtlingen keine Fingerabdrücke abgenommen wurden, wenn sie in einen anderen Staat weiterreisen. Schließlich kann auch der Nationalrat selbst kontrollieren, ob seine Gesetze rechtmäßig vollzogen werden: Findet er bei der Grenzkontrolle Gesetze schuldhaft verletzt, kann er die zuständigen Minister beim Verfassungsgerichtshof anklagen. Das setzt aber einen Mehrheitsbeschluss im Nationalrat voraus, der gegen einen Minister schwer erreichbar ist. Praktisch bedeutsamer sind daher die politischen Kontrollrechte der Opposition, insbesondere ihr Recht, an Minister Anfragen zu richten. Das ist bei den Grenzkontrollen vielfach geschehen, teils auch indirekt: So wurde der Justizminister befragt, wie es um die Ermittlungen zur erwähnten Strafanzeige wegen Amtsmissbrauchs steht. Der Justizminister muss darauf bis 8. Juni 2016 antworten.

Grenzkontrollen sind also rechtlich und faktisch möglich, auch und gerade bei Massenflucht. Die Unterlassung solcher Kontrollen kann rechtliche Folgen haben. Zu viel erwarten darf man von Grenzkontrollen aber nicht, denn auch wenn sie durchgeführt werden, gilt unionsrechtlich: Wer den Staat Österreich an der Grenze um Asyl ersucht, dessen Antrag muss geprüft werden. Stellt sich heraus, dass Österreich zuständig ist, darf der Antragsteller hier bleiben, bis sein Antrag erledigt ist. Ob Österreich das, wie angedacht, durch eine "Notverordnung" einschränken darf, ist sehr umstritten. Dass ein bloßer Antrag so weitreichende Rechte bringt, liegt in der Natur des Asylgesuchs: Ist der Antragsteller wirklich schutzbedürftig, könnte sein Leben gefährdet sein, wenn er in seinen Heimatstaat zurück muss. Zugleich wissen wir, dass nicht jeder Schutzsuchende wirklich schutzbedürftig ist. Wir sollen also mit Menschen solidarisch sein, von denen zunächst offen ist, ob sie unsere Solidarität verdienen? Das ist nicht leicht, und es bereitet vielen Usern ein Unbehagen, das User ibico besonders anschaulich beschreibt:

"Es ist vor allem die 'asymmetrische Rechtstaatlichkeit' für den durchschnittlich rechtstreuen Bürger unerträglich. Wozu ein mit viel Pomp durchgeführtes Asylverfahren, wenn am Ende de facto jeder bleiben kann? Wozu opulente Regelungen zum Aufenthalt von Ehepartnern öst. Staatsbürger, wenn andere ohne Pass einfach unter Nennung des A-Wortes aufenthaltsberechtigt sind? Wozu breite Auseinandersetzung mit behaupteten Fluchtgründen, wenn die Migranten auch nach gravierendster Straffälligkeit hierbleiben können? Wozu Grenzen, wenn in ausreichender Zahl Durcheilende eh nicht zu stoppen sind?
Diese offenkundliche Aushöhlung der Rechtstaatlichkeit wird auch in der ansässigen Bevölkerung tiefe Spuren hinterlassen."

Pöschl: Ihre Beobachtungen sind wichtig, und sie drücken aus, was viele Menschen empfinden. Betrachtet man Gesetz und Praxis näher, relativiert sich aber manches: Wie erwähnt, haben Grenzen weiterhin ihren guten Sinn. Gerade bei Massenflucht dürfen sie auch systematisch kontrolliert werden. Wer einen zulässigen Asylantrag stellt, bekommt zwar ein Aufenthaltsrecht, aber nur vorläufig. Nicht alle Asylverfahren dauern lang. Manche Fälle sind so eindeutig, dass sie schnell erledigt werden können. Selbst wenn nicht jede Abschiebung gelingt, kehren viele Asylwerber nach einer negativen Erledigung in ihren Herkunftsstaat zurück, oft sogar freiwillig. Ebenso bleiben Delikte für Asylberechtigte nicht folgenlos: Selbstverständlich werden sie dafür bestraft, bei schweren Straftaten verlieren sie zudem ihr Asylrecht.

Dennoch ist unbestreitbar, dass in Österreich auch Asylwerber bleiben, denen kein Asyl zuerkannt wurde. Das kann daran liegen, dass kein Staat sie übernimmt. Es kann aber auch sein, dass in ihrem Heimatstaat ihr Leben gefährdet ist oder ihnen unmenschliche Behandlung droht. Schließlich kommt es vor, dass ein Asylverfahren jahrelang dauert und der Antragsteller in der Zwischenzeit eine Familie gegründet hat. In solchen Fällen erkennt das Gesetz den Betroffenen zwar kein Asyl zu, erlaubt ihnen aber oft einen befristeten Aufenthalt: Dass diese Menschen hier leben, ist dann rechtmäßig, höhlt den Rechtsstaat also – anders als es zunächst erscheint – nicht aus. Dieser Befund führt zu Folgefragen, die User Zathras sehr eindringlich stellt:

"Solange abgelehnte Asylwerber nicht abgeschoben werden können, wird im Verfahren effektiv über den Zugang zum Arbeitsmarkt verhandelt. Tausende Menschen sind da. Wer sie nicht hier haben will: Bitte sinnvolle Vorschläge zur Frage 'Wie schiebt man ab, wenn niemand anderer die Leute nimmt'.
Aber zuerst einmal sind sie da. Und da gibt's nur noch folgende Fragen: Unter welchen Umständen sollte man sie arbeiten lassen? Unter welchen Umständen sollte man ihnen Sozialhilfe gewähren? Wieviel Geld sollte man in Bildungsmaßnahmen investieren (und in welche)?
Wollen wir Massen von Zwangsarbeitslosen durchfüttern? Wollen wir Massen von Zwangsarbeitslosen, die Hunger leiden und sich selbst helfen müssen? Wollen wir Massen von unqualifizierten, die erst wieder auf Almosen angewiesen sind? Gibt's überhaupt irgendwelche Alternativen zu 'Integration mit Volldampf voraus'?"

Pöschl: Ich glaube: nein. Große Fluchtbewegungen lassen sich zwar nur auf europäischer Ebene lösen, das setzt aber diplomatisches Geschick und Geduld voraus. Bis es so weit ist, sollte der Staat seine Asylverfahren weiter beschleunigen, indem er die Behörden mit gut geschultem Personal aufstockt. Im Übrigen müssen in der Tat alle Fragen, die User Zathras stellt, offen diskutiert und dann klar entschieden werden. Dabei zeigt die Erfahrung mit großen Migrationsbewegungen in Österreich, dass Menschen am leichtesten integriert werden, wenn sie Deutsch sprechen und wenn sie arbeiten. Daher muss Sprachförderung so früh wie möglich einsetzen. Heikler ist die Arbeitserlaubnis: Sie darf kein Anreiz für weitere Fluchtmigration sein. Asylsuchenden sollte sie deshalb erst erteilt werden, wenn nach dem Verfahrensstand gute Chancen auf Asyl bestehen und wenn für einen Arbeitsplatz eine inländische oder integrierte ausländische Arbeitskraft nicht verfügbar ist. Daneben hängt die Integration von Menschen aber noch von vielen weiteren Kleinigkeiten ab, die User odomonetas beispielhaft anspricht:

"Auch der Satz '... erschöpft sich nicht in der Selbstverständlichkeit, dass Migranten gleich wie Inländer Gesetze befolgen.' trifft einen wesentlichen Teil der Problematik recht gut. Zudem gibt es halt viele ungeschriebene Gesetze, wie zum Beispiel Hand geben, die Bodenspuckerei, etc. Das soziale Verhalten lässt sich nicht mit einem Gesetz regeln."

Pöschl: Tatsächlich erscheint es bei einer Momentaufnahme so, als ließe sich soziales Verhalten nicht gesetzlich regeln. Beobachtet man Verhaltensregeln über einen längeren Zeitraum, zeigt sich aber, dass wir die Grenzen zwischen Sitte und Recht immer wieder neu ziehen. Manchmal verabschieden wir uns von rechtlichen Verboten, weil wir staatlichen Zwang nicht mehr als zeitgemäße Sanktion empfinden. Gelegentlich übernehmen wir aber auch umgekehrt sittliche Regeln ins Gesetz, um ihnen mehr Nachdruck zu verleihen: Das gilt etwa für das Verbot von Stalking, Mobbing und Diskriminierung am Arbeitsplatz und im öffentlichen Raum. Das war lange "nur" schlechtes Benehmen, ist nun aber auch rechtlich sanktioniert. Das zeigt, dass es sinnvoll sein kann, sittliche Normen durch das Recht und damit durch Polizei und Justiz zu verdeutlichen, also durch Personen, die man ganz ursprünglich als Autoritäten wahrnimmt. Reine Höflichkeitsregeln eignen sich dafür zwar nicht, wie auch User odomonetas andeutet. Anderes gilt für Verhaltensweisen, die das soziale Zusammenleben wirklich stören, etwa wenn Eltern sich weigern, mit einer Lehrerin zu sprechen, oder wenn ein Patient es ablehnt, von weiblichem Spitalspersonal behandelt zu werden. (Magdalena Pöschl, 8.6.2016)