Menschen, die es zu Unscheinbarem hinzieht: Fotos wie dieses fand Andrea Büttner in der Sammlung eines britischen Ehepaares mit ausgeprägtem Interesse für die Botanik.

Foto: Harold & Patricia Whitehouse

Wien – "Die leise Welt, die abseits im Schatten steht, leidet", schrieb der Künstler Ernst Barlach über seine Bronzeskulptur Verhüllte Bettlerin (1919). Und auch wenn das Verhungern und Verlöschen jener Welt in den Zeitungen nicht widerhalle, so Barlach weiter, mache es ihm doch "die Ohren gellen". Ein Echo dieses lautstarken Verstummens durchweht die Ausstellung Beggars and iPhones in der Dépendance der Kunsthalle Wien am Karlsplatz.

Die deutsche Künstlerin Andrea Büttner (geb. 1972) bezieht sich in einer Serie großformatiger Holzschnitte auf Barlachs Skulptur, die subtilerweise bloß zwei unter einem ärmlichen Überwurf herausgestreckte Hände zeigt. Dieses Motiv reduzierte Büttner weiter, goss es in abstrakte Liniengrafiken, die auf den ersten Blick wie Kinderzeichnungen anmuten. Tatsächlich sind die Beggars (2015) Ergebnis einer Studie zur Bildsprache des verborgenen Leidens – zu deren "Formeln", wie Kurator Lucas Gehrmann sagt.

Wider die Schaufensterhaftigkeit

Eingehüllt, ja abgeschottet fühlen sich auch die Besucher: Büttner entschied sich, die Glaswände des Ausstellungsraums großflächig zu verstellen, dessen Schaufensterhaftigkeit zu unterwandern. Nach außen, zum Karlsplatz hin sind nun lediglich Überbleibsel des Ausstellungsaufbaus wie Metallstangen oder Holzleisten zu sehen – das also, was gemeinhin versteckt wird.

Es ist immerhin das Verdrängte und Übersehene, das Büttner interessiert. Das gilt auch für ihre Phone Etchings (2015), für die sie Fingerwischspuren von Smartphone-Displays in monumentale Radierungen übertrug. Dieserart veredelt sollen die fettigen Tapser nun allerdings nicht bloß zeigen, dass wir beim Navigieren durch den cleanen Cyberspace physisch mitunter einen ganz schönen Dreck produzieren. Sie sollen außerdem auf unsere Datenspuren verweisen – jedenfalls, wenn es nach Kurator Gehrmann geht.

Die Nase am Mikrokosmos

Ansprüche auf Aktualität löst Büttner, die im Vorjahr auch in der Kunsthalle-Ausstellung Individual Stories über das Sammeln vertreten war, nämlich nur bedingt ein. Ein zupackendes, technologiekritisches Stück über die Schere zwischen Arm und Reich sollte man sich von der Personale Beggars and iPhones nicht erwarten. Freilich mag ein Thema wie Betteln "viel mit dem Karlsplatz zu tun" haben, wie Kunsthalle-Direktor Nicolaus Schafhausen anmerkt. Büttner thematisiert dieses aber nur mittelbar. Sie schult mit einem gewissen Sicherheitsabstand zur Wirklichkeit den Blick für übersehene Welten.

Zum Beispiel für Moose, denen hier die überzeugendste Werkgruppe gewidmet ist. Um die Schönheit dieser "niederen Pflanzen" – so die botanische Klassifikation – zu schauen, muss man sich in eine Flora vertiefen, die keine spektakulären Farben, keine biochemischen Special Effects aufzubieten hat, sondern meist nur unbeachtet vor sich hin wächst. Wie solche Kontemplation geht, zeigt eine Serie dreidimensionaler Fotos von subtiler Komik: Menschen knien im Gras, drängen die Gesichter an den Mikrokosmos heran – und haben in ihrer gebückten, demütig wirkenden Haltung plötzlich sehr viel mit Bettlern gemeinsam.

Göttlicher Wischefinger

Verstärkt wird die zarte Entrücktheit der Schau von angedeuteter Sakralität: Sie geht etwa von Hinterglasbildern aus, die Brot zeigen. Aber auch von Textilien, die aus einer klösterlichen Weberei stammen. Büttner breitet sie – als Rohstoff – aus, auf dass man sich in die feinen Stoffstrukturen vertiefe.

Augenfällig ist der Bezug zur Religion in einer Silberglasmalerei, die unweigerlich an Kirchenfenster erinnert. Das Motiv auf dem gelben Glas ist indes wieder gar profan: Was man zunächst für eine Variation auf Gottes Adam erschaffenden Finger halten mag, ist als Wischefinger auf dem Smartphone gemeint. (Roman Gerold, 10.6.2016)