Eines der stringenten Gedichte Ernst Jandls beginnt und endet mit den Worten "Vater, komm, erzähl vom Krieg". Es hat insgesamt sechs Zeilen, und in den vier, die von den gleich einsetzenden Anfangs- und Schlusszeilen eingefasst werden, ist das ganze Elend dieser selbst auferlegten Menschheitsplage zusammengefasst – vom Einrücken der Soldaten über den Kampf, die Verwundung hin zum Tod.

Ausgespart bleibt, und das soll auch in diesem Rückblick so gehalten werden, die unerträgliche Veteranenromantik, die Kinder und Kindeskinder der Überlebenden des Weltkrieges bis heute im Ohr haben und die den Ton der öffentlichen Erinnerung durchaus mitgeprägt hat: So, als wäre, was mit Glück oder Not überstanden wurde, das Abenteuer einer Generation und ein etwas riskanterer Wandertag in Uniform gewesen.

Zu erzählen wäre also vom heutigen Standpunkt und aus der Distanz von 25 Jahren – wenn man die "offiziellen" Datierungen des Kriegsbeginns im ehemaligen Jugoslawien anerkennen will -, was wir Berichterstatter von den Ereignissen wahrnahmen, wie wir sie bearbeiteten und wie sie sich heute darstellen.

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Jugoslawische Panzer in Maribor: Der Krieg gegen Slowenien endete am 7. Juli 1991 mit dem Brioni-Abkommen, bei dem die Europäische Gemeinschaft vermittelt hatte.
Foto: Gepa / AP / picturedesk.com

Für meinen bescheidenen Teil verwundert mich aus eben dieser zeitlichen Ferne und angesichts der Datenfülle, die mittlerweile ein elaboriertes und faktisch gut abgesichertes Bild des Zerfalls Jugoslawiens entwickelt hat, wie wenig ich davon erkennen und beurteilen konnte, als ich mich darin befand. Der Verdacht, dass dem Erkenntnisgewinn und der Deutungshoheit des Zeitzeugen im unmittelbaren Augenblick seiner Aussage zu misstrauen wäre, liegt auf der Hand.

Retrospektives Misstrauen

Wer halbwegs reflektiert arbeitete, hegte diesen Verdacht schon damals, und die besseren Berichte von und in dieser nach gängigem Klischee "großen" Zeit halten damit nicht hinter dem Berg und reduzieren sie so auf ein erträglicheres Maß. Dennoch haftet meiner Erinnerung ein erhebliches Unbehagen an, das sich mit zunehmendem Alter ebenso verstärkt wie meine innere Stimme, die fragt, warum ich vieles nicht erkannt und missdeutet habe, was mir heute förmlich in die Augen springt.

Panzerkolonnen an der Grenze: "Point of no Return".

So bin ich mir gar nicht mehr sicher, wann der Krieg im ehemaligen Jugoslawien wirklich begonnen hat. Gewiss markierten die Panzerkolonnen, die am frühen Morgen des 27. Juni 1991 durch Slowenien in Richtung der österreichischen Grenze rollten, den "Point of no Return". Aber schon in den Jahren davor hatten Slowenien und Kroatien auf politischer Ebene einen Schritt nach dem anderen gesetzt, um sich der als Diktat empfundenen serbischen Dominanz in der Föderation zu entziehen.

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Franjo Tudjman im Mai 1995.
Foto: REUTERS/Nikola Solic

Das Ziel ihrer völligen Auflösung war aber selbst zum Zeitpunkt der Unabhängigkeitserklärung Sloweniens und Kroatiens am 25. Juni 1991 noch nicht endgültig beschlossen, lagen doch bis zuletzt noch andere Konzepte, wie etwa ein Zusammenschluss der Teilrepubliken nach Vorbild der Beneluxstaaten, auf dem Tisch. Nach den ersten Kämpfen und Toten war klar, dass es damit nichts mehr werden könnte.

Ungeheuerlicher Tabubruch

Möglicherweise hätte man jedoch auch das früher erkennen und mehr als nur eine Ahnung von der Höhe des Preises für die Art und Weise dieses "Nation Building" bekommen können. Im Gegensatz zu Slowenien radikalisierte sich die Stimmung in Kroatien nach dem Wahlsieg Franjo Tudjmans und seiner Kroatischen Demokratischen Union (HDZ) im Mai 1990 in beängstigender Geschwindigkeit. Ausschreitungen im Fußballstadion Maksimir in Zagreb, ein Ustascha-Lieder grölender Mob, der auf der Suche nach Anhängern des Belgrader Klubs Roter Stern durch die Straßen zog und in Ermangelung anderer Gegner eine Straßenbahngarnitur aus den Schienen hob, oder die Straßenblockaden in der vorwiegend von Serben bewohnte Krajina: Hier kochte etwas hoch, was seit Jahrzehnten unter Verschluss gebrodelt hatte.

STANDARD-Berichte vom 28. und 29. Juni 1991.

Dass der Name des faschistischen Diktators Ante Pavelic im Konnex mit einem freien, unabhängigen Kroatien genannt werden durfte, war ein ungeheuerlicher Tabubruch, der von der serbischen Minderheit im Land wörtlich genommen wurde.

Das Große im Kleinen

Prompt begannen ihre Vertreter in der Krajina mit Rückendeckung der Belgrader Politiker und Militärs mit den Vorbereitungen einer "Serbischen Republik" in der Enklave um Knin. Zu Ostern 1991 vertrieben serbische Milizen die kroatischen Mitarbeiter des angrenzenden Nationalparks Plitvice, und erstmals zeichnete sich im Kleinen ein strategisches Muster ab, das später im Großen angewandt wurde: Die wichtigste Verkehrsverbindung zwischen den serbischen Enklaven im Norden und Süden der Region des Landes führte durch den Nationalpark, der überdies einer der wichtigsten Devisenbringer Kroatiens war.

Die Kontrolle über diese Verbindung erwies sich rasch als schmerzhaftes Druckmittel gegen die Regierung in Zagreb, die Ende März Polizeieinheiten losschickte, um Ruhe und Ordnung zu schaffen. Es kam zu einem ersten erbitterten Gefecht mit zwei Toten und 20 Verletzten. Ich glaube, dass an diesem 31. März 1991 der Krieg in Jugoslawien begann: Erstmals seit den finsteren Tagen der Nazi-Okkupation hatten kroatische und serbische "Ordnungskräfte" aufeinander geschossen.

Soldaten der jugoslawischen Volksarmee bereiten den Angriff auf die Grenzstation Bleiburg-Grablach vor. Zwei Menschen starben bei der ersten Kampfhandlung zwischen Slowenien und Jugoslawien am 27. Juni 1991.
Foto: GERT EGGENBERGER / APA / picturedesk.com

Neben Milan Babic, der sich später zum Präsidenten der "Republik Krajina" aufschwang und nach seiner Verurteilung als Kriegsverbrecher 2006 in Den Haag Selbstmord beging, war der Englischlehrer Lazar Mazura einer der Haupträdelsführer auf serbischer Seite. Auf meine Frage, ob er der Einladung Tudjmans zu Verhandlungen nach Zagreb folgen werde, antwortete er lachend: "Only on a tank."

Milan Babic in Den Haag.
Foto: APA/Pool

Und meinte es auch so: Die Fronten waren gezogen, die Interessenssphären abgesteckt, und auch die Protagonisten, die sich später vor internationalen Kriegsverbrechertribunalen wiederfanden, waren längst auf der Szene erschienen. Vojislav Seseljs mörderische Milizionäre erschossen kaum einen Monat später in Borovo Selo nahe Vukovar nach einem Streit um die neue kroatische Nationalflagge, die vor einer Polizeistation aufgezogen wurde, zwölf kroatische Polizisten – Seselj prahlte gar, seine Leute hätten "mindestens hundert Ustascha" getötet.

Mörderische Wirklichkeit

Zum ersten Mal wurde in Borovo Selo auch über Gräueltaten an kroatischen Geiseln gemunkelt, die so ungeheuerlich klangen, dass man sie nicht glauben wollte. Dass die Wirklichkeit bald die schlimmsten Gerüchte übertreffen sollte, schien undenkbar. Doch schon fünf Monate später begann die Schlacht um Vukovar, eine der blutigsten Auseinandersetzungen des Krieges in Kroatien. Nach 86 Tagen der Belagerung lag die Stadt in Trümmern. Bis heute wird über die Zahl der Opfer gestritten, auf rund 5000 Soldaten und Zivilisten belaufen sich seriöse Schätzungen.

Und was in Borovo Selo nur ein Gerücht war, wurde hier beschämende Wirklichkeit. Serbische Truppen verschleppten hunderte Insassen des Krankenhauses von Vukovar, ermordeten sie und verscharrten ihre Leichen in Massengräbern. Spätestens jetzt war jedem klar, dass die Geister der Vergangenheit endgültig aus der geborstenen Flasche entwichen waren, die Titos Ideologen mit dem Etikett der "Brüderlichkeit und Einheit" versehen hatten.

Bewusst gesetzte Gesten

Ich habe mich oft gefragt, warum Slowenien dieser Albtraum erspart geblieben ist. Die scheinbar logische Antwort, allein aufgrund der ethnischen Homogenität der Bevölkerung, greift zu kurz. Manchmal hängt viel von dem, was sich oberflächlich als politisches Glück ausnimmt, von bewusst gesetzten Gesten, von Bildern und Symbolen, von im Wortsinn richtungsweisenden Wegmarken ab.

Im Juli 1990 lud die slowenische Regierung, gemeinsam mit den höchsten Würdenträgern der katholischen Kirche, zu einem Versöhnungstreffen an einen der finstersten Orte der slowenischen Geschichte ein. Im Kocevski Rog, dem Hornwald von Kocevje/Gottschee, hatten die kommunistischen Partisanen unmittelbar nach Kriegsende einen grausamen Schlussstrich unter die letzte Rechnung des Bürgerkrieges gezogen, der neben dem glorifizierten Befreiungskampf gegen den Faschismus von 1942 bis 1945 zwischen Heimwehren, Weißgardisten, Ustascha und Kommunisten ausgefochten wurde. Zu Zehntausenden trieben die Kommunisten ihre Landsleute in den Wald, erschossen sie und ließen die Leichen in Karstgrotten verrotten. 45 Jahre nach Kriegsende rief nun der soeben gewählte Präsident der Republik und Ex-Kommunist Milan Kucan zur Versöhnung, und seine Landsleute folgten dem Aufruf.

STANDARD-Berichte vom 26. Juni und 3. Juli 1991.

Neben Kucan hielt der slowenische Erzbischof Alojzij Sustar eine Rede, die als Appell zur Einheit des Landes verstanden werden wollte: Anders als die Kroaten, Serben und Bosnier wagten die Slowenen gemeinsam den Blick in die Abgründe ihrer Geschichte und suchten denen beizustehen, die das Geschaute nicht ertragen konnten. Es war ein Zeichen, das alle verstanden, und das der schlaue Kucan, wie er versicherte, nicht aus naheliegenden taktischen Erwägungen gesetzt hatte, die ebenfalls gerechtfertigt gewesen wären. Ein Neubeginn habe, so Kucans in vielen Gesprächen betonte Überzeugung, nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die Untaten der Vergangenheit benannt und eingestanden würden. Ein halbes Jahr später stimmten am 23. Dezember 1990 rund 90 Prozent der Slowenen für einen souveränen und unabhängigen Staat.

Enorm hohes Risiko

Was mich bis heute erstaunt, ist das Ausmaß, in dem sich sowohl die Politiker als auch die Bürger quer durch alle sozialen Schichten bewusst waren, welches Risiko sie damit eingingen. Sie wussten, dass der Aufbruch nach Europa – denn auch so wurde das Referendum interpretiert – in einer Katastrophe enden konnte. Sie wussten, dass ihre Territorialarmee einen Krieg mit der weit überlegenen Bundesarmee kaum gewinnen könnte und dass alle, die sie in dieses Abenteuer geführt hatten, als Hochverräter vor einem Bundesgericht enden könnten.

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Präsidententreffen im Mai 1991 in Sarajevo (von links): Momir Bulatovic aus Montenegro, Kiro Gligorov aus Mazedonien, Slobodan Milosevic aus Serbien, Franjo Tudjman aus Kroatien, Alija Izetbegovic aus Bosnien und Milan Kucan aus Slowenien.
Foto: REUTERS/Danilo Krstanovic

Auch im glücklichsten Fall, der schließlich eintreten sollte, konnten sie sich nur schwer vorstellen, wie dieses kleine Land überleben würde, da mochten die Wirtschaftsexperten und Politologen noch so fundierte Rechnungen vorlegen. Was Europa wirklich bedeutete, wussten sie noch weniger als wir, und von einem EU-Beitritt in absehbarer Zeit wagte in Slowenien niemand zu träumen. Die wirtschaftlichen und sozialen Probleme der letzten zehn bis 15 Jahre, die Streitigkeiten mit den Nachbarn, kurz, die täglichen Malaisen eines erwachsenen Staates, hätte man damals für die Garantie, diesen endlich erleben zu dürfen, lächelnd in Kauf genommen.

Der Autor (Mitte) mit dem ersten Präsidenten der Republik Slowenien, Milan Kucan (re.), und dem damaligen ORF-Korrespondenten Gerhard Seifried, später langjähriger Bürgermeister von Wolfsberg.

Und dennoch glauben gerade die pragmatischen und am wenigsten sentimentalen meiner slowenischen Freunde heute, nie mehr eine engere Nähe zueinander und zu ihrer Regierung verspürt zu haben als in den Monaten, in denen niemand wusste, wo die Reise enden würde. Den Wunsch, die Zeit zurückzudrehen, hegt dennoch niemand, wie einer von ihnen meinte: "Oder würdest du dir deine Geburt zurückwünschen, wenn du sie bewusst erlebt hättest?"

Panzer gegen Freiheit

Andere Stimmen, andere Räume: Am 25. Juni 1991 ratifizierten Slowenien und Kroatien die Unabhängigkeitserklärung. Während die Menschen nach dem Staatsakt in den Straßen und auf den Plätzen Ljubljanas feierten, setzte die jugoslawische Volksarmee (JNA) im kroatischen Rijeka und Karlovac ihre Panzer mit dem Ziel in Marsch, die Grenzübergänge zu Italien und Österreich zu sichern. Dass Kroatiens Präsident Franjo Tudjman sie, ohne mit der Wimper zu zucken, gewähren ließ, sollten ihm die Slowenen nie verzeihen.

"Ab heute wird nichts mehr so sein, wie es war."

In den frühen Morgenstunden des 27. Juni fuhren die Panzer auch aus den JNA-Kasernen in Maribor und Vrhnika bei Ljubljana los. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Kabinett Kucan in einer Krisensitzung bereits entschlossen, bewaffneten Widerstand zu leisten. In der Stadt wurden die letzten Gläser auf die Unabhängigkeit gehoben, während die Territorialarmee die Ausfallstraßen abriegelte und Posten an den strategisch wichtigen Einrichtungen bezog.

"Ab heute wird nichts mehr so sein, wie es war", sagte einer meiner Freunde, bereits in slowenischer Uniform, als wir uns verabschiedeten. Sein Cousin saß zu diesem Zeitpunkt schon in einem der Panzer der JNA.

Beide haben den Krieg überlebt. (Samo Kobenter, 11.6.2016)