Die Straßen werden immer staubiger, der offene Jeep rattert über Feldwege, erste Bauernhöfe sind auszumachen. Rund 30 Kilometer von Jodhpur entfernt, Rajasthans zweitgrößter Stadt, in der, wie in allen indischen Metropolen, ein ziemliches Gewusel herrscht, bleibt der Fahrer plötzlich stehen. "Dort drüben, sehen Sie, eine Gazelle mit ihren Jungen", freut sich der lokale Guide Bhangwar Singh.

Er ist selbst in einem Dorf in der Nähe aufgewachsen, jetzt teilt er sein praktisches Alltagswissen mit Touristen. Seelenruhig grasen die Wild tiere, die Besucher scheinen sie gar nicht zu stören, sie wittern keine Gefahr. Wenige Minuten später stoßen wir auf Hirschziegenantilopen. Und Pfaue sitzen ungeniert am Straßenrand und schlagen ihr Rad.

Schon die Anreise in das Bishnoi-Dorf ist abenteuerlich.
Foto: istock/ MACIEJ NOSKOWSKI

Bereits der Weg zu den Bishnoi, jener Religionsgemeinschaft, die von Guru Jambheshwar (1451–1536) gegründet wurde und noch heute größtenteils in der Wüste Thar lebt, ist abenteuerlich. Die kurze Fahrt fühlt sich an wie eine Safari auf dem Bauernhof. Die ausgeprägte Tier- und Natur liebe der Bishnoi ist legendär und hat eine sehr lange Tradition: Im 18. Jahrhundert wollte der Maharadscha für seinen neuen Palast Bäume fällen, für die Bishnoi war der Khejri-Baum aber schon damals heilig, 363 Dorfbewohner ließen damals ihr Leben, um die Natur zu schützen.

Legendäre Tier- und Naturliebe

Noch heute gelten die Bishnoi als frühe Ökos, sie geben Tieren Unterschlupf, vertreiben Wilderer und Jäger, leben streng laktovegetarisch und haben in ihren 29 Geboten unter anderem festgelegt: "Denke, bevor du sprichst" und "Habe Mitgefühl mit allem, was lebt". Rund 300.000 Angehörige hat das Wüstenvolk noch immer, verteilt auf Dörfer von 200 bis 300 Personen. Natürlich stellt sich für Touristen die Frage: Ist es nicht absurd, hunderte Kilometer durch die Wüste zu rattern, um eine Biogemeinschaft zu besuchen, die auf Umweltschutz großen Wert legt? Welche Auswirkungen hat dieser Tourismus auf die Dörfer?

Die älteren Frauen tragen noch immer die bunte traditionelle Kleidung und ihren goldenen Nasenschmuck, sie füttern die Gazellen und Vögel, die vorbeiziehen, aber ihre Gemeinschaft befindet sich im Umbruch.
Foto: Karin Cerny

Am Stadtrand von Jodhpur merkt man die Veränderungen bereits deutlich, die allerdings weniger mit dem Tourismus als mit dem modernen Leben zu tun haben. Immer mehr Fabriken verdrängen die Natur, die einstigen Dorfgemeinschaften leben in modernen Ziegelhäusern und haben einen Zaun um ihren Besitz gezogen. Die älteren Frauen tragen noch immer die bunte traditionelle Kleidung und ihren goldenen Nasenschmuck, sie füttern die Gazellen und Vögel, die vorbeiziehen, aber ihre Gemeinschaft befindet sich im Umbruch.

Oma hat die Hosen an

Bei einer Familie zu Gast, begrüßt uns zuerst die Großmutter: Keine Frage, sie hat in ihrer Ehe die Hosen an. Sie ist über 70, aber wenn sie einen umarmt, dann fühlt es sich an, als würde ein Profiboxer zulangen. Ihre Zähne sind strahlend weiß – geputzt werden sie mit Asche. Neben dem neuen Haus stehen noch immer die ursprünglichen Lehmhütten, voll mit alten Werkzeugen, um ihr Hauptnahrungsmittel, die Hirse, zu mahlen. Beim Rundgang wird alles erklärt, aber im Grunde ist das eine Art Freiluftmuseum, längst lebt die Familie mit Komfort. Die Jungen kleiden sich modisch in T-Shirts, das Leben der Großeltern wird ihnen immer fremder. Sie begeistern sich für das Motorrad, das am Zaun lehnt.

Ein Schluck Opium schlichtet Streit in der Gemeinschaft, heißt es bei den Bishnoi. Zubereitet wird das Gebräu während einer eigenen Zeremonie.
Foto: Karin Cerny

Der etwas schüchterne Großvater sitzt gemütlich auf dem Lehmboden und hantiert mit einem holzgeschnitzten Gestell, das aus zwei Sieben besteht. Er zerstampft ein kleines Stückchen schwarzes Harz, verdünnt es mit Wasser, siebt das Getränk und opfert den ersten Schluck seinem Hindu-Gott. Dann gibt er seinen Gästen dreimal zu trinken. Das Gebräu schmeckt ein wenig bitter. Im Grunde ist die Opium-Zeremonie den Männern vorbehalten, getrunken wird aus der Handfläche des Anbietenden. "Das Opium schlichtet Streit in der Gemeinschaft", erzählt der Guide. "Je nachdem, wie oft man zu trinken gibt, zeigt sich, welche Beziehung man zueinander hat." Der Opiumkonsum ist in ganz Indien verboten, aber bei den Bishnoi drückt die Polizei ein Auge zu. Schließlich handelt es sich um eine alte Tradition.

Wilde Geschichten

Bishnoi-Dörfer, die weiter in der Wüste liegen, sind strenger in ihren Regeln, nicht nur, was das Opium betrifft. Gegessen wird stets, bevor es dunkel wird, es könnte ja, angezogen vom Petroleumlicht, ein Insekt ins Essen fallen. Es gibt abenteuerliche Geschichten von Bishnoi, die Wilderer, die in ihr Gebiet vorgedrungen sind, nicht nur verprügelt, sondern als Strafe auch tagelang nackt der brütenden Sonne ausgesetzt haben sollen.

Die "blaue Stadt" wird Jodhpur auch genannt.
Foto: Karin Cerny

Sogar von berühmten Bollywood-Schauspielern lassen sich die Bishnoi nicht beeindrucken, als Salman Khan, einer der populärsten Filmstars des Landes, 1998 während einer Drehpause auf die Jagd ging und sogar bedrohte Tiere abknallte, hielten die Bishnoi ihn eine Woche lang fest. Der Fall sorgte über die Grenzen von Indien hinaus für mediale Aufmerksamkeit. Trotz gefinkelter Anwälte musste der Star letztendlich seine Schuld eingestehen.

Der Besuch ist zu Ende, die Großmutter verabschiedet uns mit einem festen Händedruck, ihr Mann eilt davon, im Nachbarhaus findet eine Hochzeit statt, die möchte er auf keinen Fall verpassen. Höchste Zeit, dass die Touristen wieder gehen. Man hat ein wenig das Gefühl, es sei eine heile Bishnoi-Welt inszeniert worden, die es in dieser traditionellen Form gar nicht mehr gibt. Trotzdem wird anschaulich, wie die Großeltern vor nicht allzu langer Zeit aufgewachsen sind. Und wie stolz sie noch immer auf ihre Kultur sind.

Ausgelassene Stimmung

Dann geht es retour nach Jodhpur, der "blauen Stadt" (die Brahmanen strichen ihre Häuser früher in dieser Farbe an). Der Markt von Jodhpur ist einer der schönsten in ganz Rajasthan, auf jeden Fall weniger touristisch als jener in Jaipur. Man merkt der Stadt an, dass sie das Tor zur Wüste ist, zahlreiche Nomaden machen ihre Großeinkäufe, Muslime shoppen neben Hindus, die Gewänder sind bunt, die Stimmung ist ausgelassen.

Der Markt von Jodhpur ist einer der schönsten in ganz Rajasthan, auf jeden Fall weniger touristisch als jener in Jaipur.
Foto: Karin Cerny

Viele Handwerksbetriebe verkaufen qualitätsvolle Waren, etwa die altmodischen indischen Metallscheren, kleine Friseurbetriebe verpassen den Jungs auf der Straße hippe Haarschnitte. Die typischen Nomadenschals sind ebenso zu finden wie handgeflochtene Schuhe aus Kamelleder. Obwohl auch hier die Plastikschlapfen langsam ihren Siegeszug antreten. Der Markt von Jodhpur ist ein faszinierendes Gemisch aus Gesichtern, Farben, Gerüchen. Je tiefer man in das Gewirr der engen Gässchen eindringt, desto mehr blaue Häuser tauchen auf. Aber auch prächtige Hindutempel, die versteckt in Seitengassen stehen und unter bedrohlich tief hängenden Stromkabeln erst auf den zweiten Blick erkennbar sind.

Die Jugend interessiert sich eher für modische Haarschnitte als die traditionelle Lebensweise.
Foto: Karin Cerny

Zum Abschluss eines erfolgreichen Einkaufstages treffen sich alle an einer Stelle: dem Shri Mishrilal Hotel am südlichen Tor des Sardar-Marktes (Hotel bedeutet in Indien ursprünglich so etwas wie Restaurant). Der kleine Imbiss ist dementsprechend gedrängt voll, denn hier bekommt man das beste Lassi der Stadt – das mit Safran und Kardamom gewürzte Makhania-Lassi ist fast so dick wie Mascarpone.

Junge, schicke Inder sitzen neben exotischen Dorfbewohnern, die mit ihren vollen Einkaufstaschen eine Pause machen, neugierige Touristengruppen neben älteren Herren mit bunten Turbanen. Hier kommt man leicht ins Gespräch. Schließlich gibt es keinen besseren Ort in Jodhpur, einen abenteuerlichen Tag ausklingen zu lassen. (Karin Cerny, RONDO, 17.6.2016)