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Auch der Krieg ist privatisiert und richtet sich auf unseren Alltag, sagt der italienische Philosoph Franco "Bifo" Berardi.

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STANDARD: In Ihrem Buch "Helden. Massenmord und Suizid" analysieren Sie den neuen Typus eines nihilistischen Amokläufers. Fällt Omar Mateen, der Attentäter von Orlando, in diese Kategorie?

Berardi: Ja, ganz bestimmt, und es gibt immer mehr wie ihn. Man kann bereits von einem globalen Bürgerkrieg sprechen. Omar Mateen ist ein suizidaler Krimineller, der andere mit sich reißt. Man findet zwar religiöse Spuren in seinen Taten, aber die tiefere Bedeutung ist nicht religiöser Art. Es ist eine Explosion von Hass, der sich auch gegen sich selbst richtet. Nur einen Tag davor kämpften russische Fußballfans in Marseille gegen britische. Was bedeutet das? Es ist, als würde der Verlust von sozialer Identität diese Obsession hervorbringen, die nach aggressiver Identifizierung verlangt.

STANDARD: Wie schon in Paris werden Zentren unserer Freizeitkultur angegriffen – in diesem Fall von Homosexuellen. Ist diese Zielwahl ein neues Phänomen?

Berardi: Der Ort ist immens wichtig. Es ist nicht nur ein Nachtclub, es ist ein Ort für die Menschen. Die Intention der Terroristen ist kulturell und homophob. Wir befinden uns in einem fragmentierten Bürgerkrieg: Denn nicht nur die Islamisten, sondern auch manche christliche Glaubensanhänger in den USA machen die Kultur zum Ziel des Krieges. Die Frauenfrage ist dabei ganz essenziell. Das tägliche Leben wird auf dem Feld eines identitären Krieges verhandelt. Es findet eine Privatisierung des Krieges statt, die bis in den Haushalt hineinreicht. Erinnern Sie sich an die Republikanerin Michele Fiore, die mit bewaffneter Familie für eine Weihnachtskarte posierte!

STANDARD: Omar Mateen hat zumindest mit dem IS sympathisiert – in Ihrem Buch argumentieren Sie, dass es nicht unbedingt um politische Überzeugungen geht.

Berardi: Ich verneine nicht, dass es diesen ideologischen Hintergrund gibt. Ich glaube aber, dass die Psychologie die besseren Mittel hat, um das Phänomen zu erfassen. Es geht um eine Verzweiflung, um ein Elend, das das Produkt der 40 Jahre lang praktizierten Neoliberalisierung der Gesellschaft ist. Wenn Sie an die Mitglieder des IS denken: Das sind arbeitslose Männer aus Kairo, Tunis, London, Paris und vielen anderen Städten. Sie wissen, dass sie niemals eine Zukunft, einen Job haben werden – den finden Sie nun in der Armee. Das andere Element ist Hass. Diese Männer waren zehn Jahre alt, als sie die Bilder der Erniedrigung von Abu Ghraib gesehen haben. Die Erniedrigung der Muslime produziert einen aggressiven Überschuss. Das ist wichtiger als Religion und politische Strategien.

STANDARD: Trump schürt nun weiter die Islamophobie, was wiederum den Islamismus nährt. Dreht sich das Rad immer schneller?

Berardi: Trump ist die reinste Entsprechung einer rassistischen Welle, die sich innerhalb der weißen Rasse aufbaut. Es ist schrecklich, diesen Begriff zu verwenden, ich hasse ihn selbst, aber es geht um diese Form der Selbstwahrnehmung. Wir leben im Zeitalter der Erniedrigung der weißen Arbeiterklasse. Hitler hat seine Macht auf dem Elend der deutschen Arbeiter errichtet. Trump, auch Hofer, Le Pen und Boris Johnson machen es genauso. Es ist wie in den 1920er-Jahren, als Hitler zu den Arbeitern sagte, sie sind keine Arbeiter, sondern das Volk, die weiße Rasse. Das Problem dabei ist, dass wir keine Idee haben, wie wir aus dieser Falle wieder herauskommen.

STANDARD: Sie schreiben, die Prekarisierung hat die Arbeiterklasse zerstört. An ihre Stelle tritt nun der Wunsch nach Zugehörigkeit. Warum greift dagegen kein Mittel?

Berardi: Das ist die schwierigste Frage überhaupt. Wir haben es mit einem Prozess zu tun, der schon fortgeschritten ist. Der Bürgerkrieg ist im Gange. Wie kann man ihn stoppen? Man kann sagen, indem man die Solidarität unter Arbeitern zurückgewinnt. Das ist genau das, was wir versäumt haben. Doch diese Leute, die für Bernie Sanders stimmten, sind die interessanten Menschen. Junge Menschen, die die Möglichkeit einfordern, die Fundamente der Gesellschaft neu zu erfinden. Sie mögen nicht gleich gewinnen, aber sie sind die Zukunft. Gegenwärtig ist ein Akteur die Finanzdiktatur, der andere sind die Rechtsradikalen, die sich gegen die globale Finanz aufstellen – ich sehe keinen dritten.

STANDARD: Oft spricht man von einer Repräsentationskrise der Politik. Trifft es das denn noch?

Berardi: Das Problem ist viel radikaler als eine Repräsentationskrise. Politik hat ihre Macht, ihre Fähigkeit zu lenken verloren. Wir sprechen nicht mehr von der Regierung (Government), sondern von Governance – die automatische Vollstreckung einer mathematischen Steuerung des sozialen Lebens. Die EU wird durch eine finanzielle Governance zerstört. Es ist also nicht so sehr ein Problem des Neuerfindens der Politik; es geht mehr um das Gehirn, die Selbstorganisierung des sozialen Gehirns. Es braucht eine Arbeitergemeinschaft der Bürger, welche die Richtung, die soziale Maschine ändern kann.

STANDARD: Welche Rolle spielen Medien – insbesondere das Internet, über das Sie sich ja in Ihrem Buch skeptisch äußern.

Berardi: Technologie ist immer mehrdeutig, nicht gut, nicht böse. Das Internet ist zu einem anthropologischen Verwandler geworden, es hat Lebensabläufe, nicht nur die Kommunikation, auch die Sexualität verändert. Auf längere Sicht hat es den Effekt einer Abschottung – die Digitalisierung des sozialen Alltags schafft eine weitläufige Einsamkeit, die zugleich mit einer enormen Stimulierung einhergeht.

STANDARD: Was bewirkt die Strategie der Ironie? Sie beschreiben Sie als ein Mittel der Verweigerung.

Berardi: Meine Analysen können apokalyptisch wirken, aber ich muss nicht das letzte Wort haben. Junge Leute, die in den Staaten für einen alten Sozialisten stimmen – das ist ein ironisches Ereignis. Ironie ist aber auch eine Strategie des Überlebens. In den nächsten zehn Jahren werden wir eine Form der identitären Aggression erleben – ich verwende das Wort Faschismus nicht, aber ich denke, es ist etwas sehr Ähnliches. Ironie ist eine der Fluchtlinien. (Dominik Kamalzadeh, 15.6.2016)