Tomas Venclova ist ein litauischer Schriftsteller und Übersetzer.

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Der Berg der Kreuze – Pilger aus aller Welt stellen immer neue Kreuze auf – ist ein berühmter katholischer Wallfahrtsort in Litauen. Vermutlich war der zum Teil künstlich angelegte, zehn Meter hohe Hügel schon im Mittelalter eine Gebetsstätte.

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In Straßburg, in der protestantischen Kirche St.-Pierre-le-Jeune, kann man ein Fresko aus dem frühen 15. Jahrhundert betrachten, auf dem die europäischen Nationen dargestellt sind. Jede Nation ist als allegorische Figur abgebildet, hoch zu Ross. Eine kleine Fahne gibt Auskunft, welche Nation die jeweils Dargestellten verkörpern.

Deutschland schreitet voran, gefolgt von Gallien und dahinter Italien – mit einem kleinen Abstand. Etwas abseits ist England zu sehen. Den Abschluss des Zuges macht Polen. Doch hinter Polen marschieren noch zwei Figuren, allerdings nicht zu Pferde, sondern zu Fuß.

Es ist Litavia, also Litauen, zum Schluss, das höflich einer Nation mit dem Namen "Oriens" den Vortritt lässt. Unter dem Orient verstand der Schöpfer dieses Freskos die Ukraine und Weißrussland, die damals das Großfürstentum Litauen unterstützten, anders gesagt, die Litauen von Vilnius aus verwalteten.

Später als alle anderen

Das Fresko, das man auch als eine Art Comicstrip des Spätmittelalters bezeichnen kann, ähnelt auf eine erstaunliche Art der heutigen Europäischen Union. Allerdings, versteht sich, spiegelt es die damalige Zeit wider, und zwar ziemlich genau.

Litauen trat dem damaligen Europa später als alle anderen bei. Es wurde erst zwischen den Jahren 1387 und 1413 christianisiert, davor war Litauen der letzte heidnische Staat an dieser äußersten Grenze, aber trotzdem riesig und mächtig. Weißrussland und die Ukraine, die es unterwarfen, waren bereits christlich-orthodox, genau deshalb eilen sie Litauen auch voraus.

Verloren zwischen den Wäldern an den äußersten Grenzen des Kontinents, eine alte baltische Sprache sprechend, die sich vom Slawischen nicht weniger als das Keltische vom Deutschen oder vom Französischen unterscheidet, versuchte Litauen fast tausend Jahre lang, Anschluss an Europa zu finden und sich zu vereinen. Das spiegelt sich auf eine ganz eigene Art auch im mittelalterlichen Wappen wider, das bis heute das Wappen der Republik Litauen geblieben ist.

Es stellt einen Reiter dar, der nach Westen strebt und der Vytis heißt. Vytis bedeutet Jäger. Diese Jagd nach dem damaligen und künftigen Europa begann also schon im 13. Jahrhundert, als Litauen das erste Mal christianisiert wurde, kurz danach aber wieder ins Heidentum zurückfiel. Die Versuche der Bekehrung zum Christentum hielten an, wurden erfolgreich. Allerdings führte Litauen mehrere Hundert Jahre lang immer wieder mit Russland Krieg.

Annexion und Zerfall

Wichtig zu wissen ist, dass Russland ein vollkommen anderer kultureller Raum war, heute würde man ihn als euroasiatisch bezeichnen. Litauen fand sich darin schlecht zurecht. Man verstand sich als ein katholisches Land, das in lateinischen Buchstaben schrieb und enge Verbindungen zu Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien und Spanien unterhielt.

Zwischen 1918 und 1940 war Litauen wieder einmal unabhängig – schaffte es aber wieder nicht, zu Europa zu gehören, weil es schließlich von der Sowjetunion annektiert wurde.

Erst 1990/91 gelang es dem Land, sich von der Sowjetunion zu lösen – und das war auch der Katalysator für den Zerfall des sowjetischen Imperiums. 13 Jahre später schließlich trat Litauen der EU bei – zusammen mit Polen, Tschechien, Ungarn und sechs weiteren Staaten. Ich denke, dass das damals das erfolgreiche Ende einer tausend Jahre dauernden Jagd war – nicht beizutreten wäre für Litauen eine Katastrophe gewesen.

Dutzende ethnischer Gruppen

Als Mitglied der Europäischen Union hat Litauen eine ganz eigene Position. Die Hauptstadt Vilnius liegt näher an der EU-Außengrenze als jede andere Hauptstadt Europas, das postsowjetische und halbsowjetische Weißrussland in unmittelbarer Nähe (nicht weiter als 30 Kilometer von Vilnius entfernt). Litauen ist ein katholisches Land, in dem aber auch orthodoxe und protestantische Gemeinden leben.

Blickt man auf die letzten hundert Jahre zurück, war in Litauen auch eines der größten europäischen Zentren des Judaismus. Doch man könnte es auch als das nördlichste muslimische Land der EU bezeichnen, weil seit dem 14. Jahrhundert auch eine Gruppe Tataren in Litauen lebt – seit der Sowjetzeit auch einige weitere muslimische Volksgruppen.

Die litauische Bevölkerung stellt ethnisch gesehen jedoch derzeit klar die Mehrheit, daneben gibt es einige Dutzend anderer ethnische Gruppen – dazu gehören Engländer, Deutsche, sogar Portugiesen und Griechen. Auf diese Weise ist Litauen eine Miniatur der Europäischen Union.

Kritische Stimmen

Man könnte meinen, dass ein Verbleib unter dem Schutz der EU für mein Land selbstverständlich ist, umso mehr, als es in den letzten Jahren wirtschaftlich auf die Beine gekommen ist, woran die anderen Mitglieder der Union ohne Zweifel einen großen Anteil hatten.

Trotzdem gibt es bei uns auch kritische Stimmen zur EU, wenn auch nicht so laut wie in den Visegrád-Staaten Polen, Ungarn oder Tschechische Republik. In der letzten Zeit sind sie aber auch bei uns unüberhörbar geworden. Aus meiner Sicht sind sie schlecht für Litauen und haben keine Chance, sich durchzusetzen. Trotzdem gibt es Gründe dafür.

Es ist vor allem das wachsende globale Chaos, das die Attraktivität des westlichen Vorbilds für die Länder des Ostens und Südens mindert. Es werden die ureigenen Werte von Fortschritt und Integration infrage gestellt, Werte, die es seit der Aufklärung gibt.

Unsere Europaskeptiker sind neben den Anhängern des sogenannten Isolationismus, einer Bewegung, die ihre Wurzeln in der Sowjetzeit hat, auch konservative Kräfte mit Positionen wie im 19. Und 20. Jahrhundert.

Kapital als Kult

Der EU wird eine Reihe von Vorwürfen gemacht. Nicht ohne Grund prangern die Euroskeptiker ihren Bürokratismus an, beschuldigen die Union, das Kapital zum Kult gemacht zu haben, die nationalen Anfänge ihrer Mitglieder zu vergessen. Man wirft der EU auch vor, linksradikal und gottlos zu sein.

Unverschämterweise wird die Europäische Union mit der Sowjetunion und das Diktat Brüssels mit dem Diktat Moskaus verglichen, den totalitären Anspruch der damaligen Sowjetunion vergisst man in dieser Art der Argumentation ganz einfach.

Trotz allem geht die überwiegende Mehrheit der Euroskeptiker allerdings dann doch davon aus, dass die EU verpflichtet ist, uns vor der russischen Bedrohung zu beschützen (sie übertreiben sie dabei ein bisschen).

Dabei werfen sie Europa bis heute vor, dass es einst das Land an Stalin verraten und aufgegeben hat. Ihrer Meinung nach ist Europa deshalb verpflichtet, so etwas wie ein Bankomat zu sein. Im Gegenzug heißt es aber keineswegs, dass wir für diese europäische Hilfe Gegenleistungen bringen müssen, etwa wenn es um Migranten geht, um Frauen oder sexuell anders orientierte Minderheiten.

Diese karikaturhaften Positionen werden, wie gesagt, derzeit an vielen verschiedenen Orten beobachtet, Litauen reiht sich da in eine Riege anderer ein. Die Situation ist aber nicht schlechter als anderswo.

Allerdings würde ich nicht wollen, dass diese Stimmen Oberhand gewinnen. Es ist auch wenig wahrscheinlich. Zu hoch ist der Preis, den wir seit dem 13. Jahrhundert gezahlt haben, um an den europäischen Werten teilhaben zu können. (Tomas Venclova, 20.6.2016)