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Der Parthenon – das "Jungfrauengemach" – ist der dominante Tempel auf der Akropolis in Athen. Der Burgberg ist der Stadtgöttin Athene gewidmet und war erst Sitz der Könige, später Sitz der Götter.

Foto: Reuters / Alkis Konstantinidis

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Aris Fioretos ist ein schwedischer Schriftsteller und Übersetzer österreichisch-griechischer Herkunft.

Foto: Getty Images / Ullstein

Europa eine Seele geben: So lautete die Parole, mit der einer der Väter der Europäischen Union, Jacques Delors, Anfang der 1990er-Jahren zu einer kulturellen Konsolidierung des Kontinents aufrief. Eine gemeinsame Identität müsse jenseits von Schengener Abkommen und Währungszonen entwickelt werden, sonst drohten Einzelinteressen die Union zu sprengen.

Der Vorsatz war sicherlich ebenso ernst wie ehrlich gemeint. Nur waren die damit verbundenen Hoffnungen etwas naiv. Denn muss man sich nicht fragen, ob eine "Seele" verordnet werden kann – als handelte es sich um Sparmaßnahmen oder Penicillin?

Auch dürfte es erlaubt sein, darüber zu sinnieren, ob der Kontinent nur eine Seele hat oder ob er nicht eher eine Vielzahl von ihnen beherbergt. Anders gesagt: Was, wenn wir, statt von einer Seele zu sprechen, über deren "Legion" nachdenken würden?

An einem fremden Ufer

Die Bezeichnung taucht bekanntlich in einer Szene in der Bibel auf, in der Jesus, nachdem er an einem fremden Ufer an Land gegangen ist, einem Mann begegnet, "der seine Wohnung in den Grabhöhlen" hat. Besessen von "unreinem Geist", schlägt dieser sich mit Steinen, schreit Tag und Nacht, und "selbst mit Ketten konnte ihn keiner mehr binden".

Keine Frage, Jesus steht einem schwer zu integrierenden Menschen gegenüber. Nicht nur schwer zu bändigen, sondern auch mit den Toten verbunden, das heißt: Mit historischem Bewusstsein ausgestattet, antwortet dieser Mann auf die Aufforderung, seinen Namen zu sagen: "Legion ist mein Name, denn wir sind viele."

Für einen Autor liegt die Vermutung nahe, dass diese seltsame Aussage auch als eine Miniatur, wenn nicht unseres Kontinents, so doch zumindest seiner Literatur gelesen werden könnte.

Denn in ihrem Herzen gibt es eine merkwürdige Verrückung: Die Person, die anfangs spricht, ist nicht die, die den Satz beendet. Zwischen dem ersten und dem zweiten Satzglied verwandelt sich der Sprechende aus jemandem, der "mein" sagen kann, in jemanden, der sich "wir" nennt.

Erkennen wir in dieser Verrückung nicht genau das, was die Literatur bewirkt? Sie lädt den Leser ein, sich in jede einzelne Person zu versetzen, die im Text zur Sprache kommt. Die Lektüre eines Buches erweitert jedes Ich zum "wir".

Literatur als Erkenntnisform

In dieser Verwandlung gibt es sowohl eine erschaffende als auch eine auflösende Kraft – und folglich ebenso viel Glück wie Katastrophe. Wenn die Literatur nicht bloß der Zerstreuung dienen, sondern eine eigene Erkenntnisform sein soll, begnügt sie sich nicht damit, mehr oder weniger geschickt verpackte Inhalte anzubieten, die uns ergreifen, aber nicht verändern. Vielmehr macht sie sich von Erwartungen frei, was sie ist oder sein soll, und überrascht stattdessen damit, was sie werden kann.

Ihr Versprechen ist ein doppeltes. Es lautet: Niemand, der sich mit mir identifiziert, wird allein sein. Und: Niemand, der mich aufsucht, wird mich als ein und derselbe Mensch verlassen. Ähnlich wie die Antwort des besessenen Mannes, "Legion ist mein Name, denn wir sind viele", trägt die Literatur die Vielfalt und die Verwandlung in sich.

Vielleicht wäre es an der Zeit, solche Differenzerfahrungen als Teil unseres europäischen Erbes zu betrachten. Was, wenn Europa keine Seele gegeben werden müsste, die der Kontinent schon in aller Fülle und Vielfalt hat? Sondern sein geheimer Name "Legion" lautete?

Dann wäre die Union am ehesten dazu berufen, Unterschiede als etwas Verbindendes zu pflegen. Oder um es mit einem verstorbenen ungarischen Freund, Imre Kertész, zu sagen: Sie wäre die Hüterin einer Glückskatastrophe. (Aris Fioretos, 20.6.2016)