Die Sigismundssäule dominiert den Schlossplatz in Warschau. Sie erinnert an die Ernennung der Stadt zur Hauptstadt, aber auch an den Wiederaufbau nach 1945.

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Stefan Chwin ist ein polnischer Schriftsteller und Literaturhistoriker, der in Danzig lebt.

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Im heutigen Polen unterstützen rund 5,7 Millionen Wähler die national-konservative Regierung, deren euroskeptische Äußerungen in Westeuropa Sorge machen. Trotz vieler Vorbehalte sind jedoch 88 Prozent der Polen – wie jüngste Umfragen zeigen – für den Verbleib Polens in der Europäischen Union, sodass also kein Polexit droht. Die Kritik richtet sich eher gegen die Funktionsweise der EU in ihrer derzeitigen Gestalt.

Als die Polen für den EU-Beitritt ihres Landes stimmten, war es ihnen im Grunde völlig egal, was für eine Union das eigentlich ist, wenn man damit nur dem sowjetischen bzw. russischen Machtbereich entkommen konnte. Heute ist der Charme dieser EU in den Augen vieler verblasst.

Die radikalen Vertreter der Regierungspartei stellen die EU nunmehr als Instrument eines "modernen Kolonialismus" dar. Empörung bei einem beträchtlichen Teil der polnischen Gesellschaft ruft z. B. die Tatsache hervor, dass es in manchen Städten Polens keine einzige einheimische polnische Bank mehr gibt: Denn alle Banken sind in deutscher, österreichischer oder französischer Hand.

Die erstarkende nationalistische Strömung macht sich dies sehr nachdrücklich als Argument zunutze und findet dabei die Unterstützung eines erheblichen Teils der Polen im Alter von 18 bis 30 Jahren. In diesen Kreisen herrscht die Überzeugung, die EU sei ein wirksames Instrument zur wirtschaftlichen Unterwerfung schwacher Staaten durch mächtige ausländische Unternehmen mit Staatsbeteiligung, vor allem aus Deutschland, und dass Polen sich nach dem EU-Beitritt in ein Land verwandelt habe, wo westliche Konzerne nur noch "Montagehallen für Autos" bauen und sonst nichts.

Ideologie vs. Realität

Die polnische Regierung gibt mit schöner Regelmäßigkeit solche populistischen Slogans von sich, was sie aber zugleich nicht daran hindert, mit Stolz hervorzuheben, dass sie vor kurzem den Mercedes-Konzern dafür gewinnen konnte, eines seiner Werke in Polen anzusiedeln. So prallen in Polen populistisch-nationalistische Ideologie und harte wirtschaftliche Realitäten aufeinander.

Ein Großteil der Polen ist der Ansicht, dass die heutige EU die Spaltung des Kontinents in zwei Hälften mit unterschiedlicher Entwicklungsgeschwindigkeit verfestigt hat – wobei Westeuropa die ostmitteleuropäische Hälfte nicht als gleichwertigen Partner betrachtet. An dieser Auffassung ändert auch nichts, dass Riesensummen an EU-Fördergeldern zu einer nachhaltigen Verbesserung des polnischen Lebensstandards beigetragen haben.

Ein wichtiger Faktor im kollektiven Bewusstsein der Polen, durch den sich die beschriebenen Einstellungen erklären lassen, ist das Trauma, dass die Unabhängigkeit erst 1989 wiedererrungen wurde. Die Polen sind überaus empfindlich gegenüber jeglichem – realem oder vermeintlichem – Antasten ihrer politischen oder wirtschaftlichen Souveränität.

Gleichzeitig ist bei ihnen die Zugehörigkeit zur EU fest mit der Hoffnung auf größere geopolitische Sicherheit des polnischen Staates verknüpft. Genau deshalb ist für sie ein Platz außerhalb der EU unvorstellbar. Ein beträchtlicher Teil der Polen – wie die Wahlergebnisse von 2015 ausweisen – wünscht sich jedoch, dass die EU politisch weiter rechts steht als derzeit, wogegen sich die in Polen weiterhin starken liberaldemokratischen Kräfte wehren.

Mit Nachdruck wird auch die Notwendigkeit wirklich partnerschaftlicher Beziehungen zu den Westmächten betont. Für Empörung sorgt daher der Gedanke aufgezwungener Einwandererquoten, wobei diese Entrüstung gelegentlich die Form eines radikalen nationalistischen Egoismus annimmt, der vom christlich geprägten Geist der polnischen Kultur weit entfernt ist.

Kapitalismus vs. Humanismus

Ich selbst halte die EU für eine der glücklichsten Erfindungen in der Geschichte Europas. Selbst wenn es sich um eine nur unvollkommene Struktur handelt, so trägt sie doch in sich die Hoffnung auf einen Kontinent ohne Kriege, und es gibt wohl keine wichtigere Hoffnung als diese.

Beeinträchtigt wird diese Struktur jedoch durch einen grundlegenden Konflikt; einander gegenüber stehen hier nämlich einerseits die eisernen Regeln des kapitalistischen Systems – mit seinem Leitprinzip der Gewinnmaximierung um jeden Preis und selbst auf Kosten der Schwächeren – sowie andererseits die schöne humanitäre und solidarische Ideologie der EU – mit ihrem Projekt gegenseitiger Partnerschaft, Hilfe und Unterstützung.

Die Logik der Konzerne ist eine ganz andere als die Logik der Werte, die die Gründerväter als Basis der Union wollten. Die EU hat sich somit weit entfernt von einer Denkweise europaweiter Solidarität. Westliche Konzerne kaufen polnische Firmen manchmal allein, um potenzielle Konkurrenten auszuschalten. Handfeste Wirtschaftsgeschäfte sind oft wichtiger als z. B. die Freiheit der mitteleuropäischen Ukraine. Ich würde mir sehr wünschen, dass es der EU in Zukunft gelingt, diesen grundsätzlichen Konflikt zu lösen – zu unser aller Nutzen. (Stefan Chwin, 20.6.2016)