Im Amphiteater von Pula in Kroatien fanden in der Antike rund 23.000 Menschen Platz, um bei freiem Eintritt, aber auf streng nach sozialem Stand regulierten Sitzplätzen "Brot und Spiele" zu erleben. Der römische Kaiser Vespasian, Auftraggeber des Kolosseums in Rom, ließ es erweitern, weil er damit einer aus Pula stammenden Geliebten einen Wunsch erfüllen wollte.

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Der Schriftsteller Miljenko Jergović wurde in Sarajevo geboren, wo er Philosophie und Soziologie studierte.

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Europa vertrocknet und verwelkt wie ein Rosenblatt, das von Pflanzenläusen (Macrosiphum rosae) befallen wurde. Es begann mit Ungarn und Litauen, setzte sich mit der Slowakei und Polen fort und geht in den letzten Monaten auch in Kroatien weiter. In Ostdeutschland, der ehemaligen DDR, vertrocknet Europa schon fünfundzwanzig lange Jahre.

Der Westen hat sich nämlich gründlich damit befasst, den Osten zu entkommunisieren, hat Lenin-Denkmäler und Stadien für Weltfestspiele niedergerissen; östliche Architektur verschwand – selbst diejenige, die den Stempel "Bauhaus" trug – und mit ihr alle Anzeichen von Honeckers Sozialismus. Die Stasi-Akten wurden geöffnet, die Lustration durchgeführt.

Über Nazismus allerdings wurde nicht geredet, ebenso wenig wie über rassistische und antisemitische Gefühle, die im Osten nicht einmal dann behandelt wurden, als man dies im Westen tat. Faschismus ist ein generationsübergreifendes Phänomen, es wird von der einen zur nächsten Generation weitergereicht und erwacht in den Seelen der Menschen, wann immer zentrale Herrschaftsgebilde es für randständig halten.

Immer Richtung Mitte

Und es bewegt sich immer vom Rand in Richtung Mitte, wie die Macrosiphum rosae: Mussolini marschierte aus der tiefsten italienischen Provinz nach Rom ein, Hitler kam aus der Idylle des katholischen Örtchens Braunau am Inn, Francisco Franco hat die Eroberung Spaniens mit Gottes Hilfe, der Unterstützung der katholischen Kirche, einerseits und derjenigen Adolf Hitlers andererseits von der Insel Teneriffa aus vorgenommen, jenem zukünftigen Tourismusparadies ...

Und wann immer Faschisten in ihr jeweiliges Rom einmarschierten oder ihr Berlin erreichten, wunderte sich die Öffentlichkeit der Metropolen, wie und wieso diese Leute, die bis gestern noch an den Rändern standen, plötzlich so wichtig und mächtig waren – und waren in ihrer Überraschung sogar ein bisschen beleidigt.

Es beleidigte sie die Banalität dieser Leute: Während sich die Metropolenbewohner nämlich mit Ökonomie und Wirtschaft befasst hatten, mit dem Volkswohlstand und höherer Kultur, hatten sich diese Marginalen mit ihrem Faschismus beschäftigt.

Was ist das denn überhaupt, Faschismus? Das ist, wenn der Großteil einer Bevölkerung bei freien und demokratischen Wahlen eine Regierung wählt, deren Ziel es ist, die Demokratie abzusetzen. Nur in Ausnahmefällen wird der Faschismus durch einen zivilen oder militärischen Putsch eingesetzt: Das passierte zum Beispiel in Spanien oder in Chile.

Die Metropolenbewohner Roms im Jahre 1923, die Berliner 1933 und die Wiener 1936 hatten ein Problem mit ihrem Egoismus. Sie hatten ein Problem mit dem aristokratischen, großbesitzerischen und kapitalistischen Bedürfnis, ihren Reichtum weiterhin zu vergrößern, auch dann, wenn es auf Kosten der Armen ging.

Die Faschisten brachten dann diese wütenden, ungebildeten und rohen Armen aus der Provinz oder der Peripherie mit, damit sie im Namen eines nationalen kollektiven Sieges den Egoismus der Metropolenbewohner umstürzen konnten.

Das passiert auch heute wieder. Europa wird angegriffen. Man greift es von seinen Rändern her an, es rächt sich sein postkommunistischer Osten, der im letzten Vierteljahrhundert von der Freiheit enttäuscht wurde. Und nichts ist so gefährlich wie ein Mensch, der von der Freiheit enttäuscht ist. Nichts ist so zerstörerisch für seine Umgebung wie eine Gemeinschaft von Freiheitsenttäuschten.

Klein, stark und mächtig

Und beruhigen Sie sich bloß nicht damit, dass es sich um kleine, arme Staaten handelt, neben den großen und mächtigen. Ein von der Freiheit enttäuschtes Kroatien ist viel mächtiger und stärker als ein freies Deutschland, Schweden oder Frankreich ...

Es ist falsch, wenn Großbritanniens Referendum als grundlegendes europäisches Thema behandelt wird. Wir sollten uns mit Ungarn, der Slowakei und Litauen beschäftigen. Wir sollten uns mit der Faschistisierung der ehemaligen DDR befassen, mit Frau Petry in Dresden, die am liebsten auf Flüchtlinge schießen würde. Weshalb denn schießen? Ist Gas nicht viel effektiver?

Die Alternative zu Europa ist der Faschismus. Großbritannien ist dieser Tage und Wochen viel mehr Europa, als Europa im Rest der Europäischen Union noch zur Verfügung hat. Das wird sich auch nicht ändern, wenn die britischen Bürger am 23. Juni entscheiden, dass sie rauswollen.

Über ihre Zugehörigkeit zu Europa haben sie symbolisch schon bei den Wahlen des Londoner Bürgermeisters entschieden. Die Tatsache, dass sie Sadiq Khan gewählt haben, sagt über die Londoner mehr aus als das bevorstehende Referendum.

Und dabei geht es nicht um Khans politische Überzeugungen, die uns im Übrigen auch nicht vollständig bekannt sind, sondern es geht darum, dass er das Kind pakistanischer Flüchtlinge ist und Moslem, ein Angehöriger also eines stigmatisierten Volkes. Ein solches Stigma dürfte in Europa nicht von Bedeutung sein. Nicht in einem Europa, das sich noch daran erinnert, dass es 1945 den Faschismus besiegt hat.

Wenn Sie sich also immer noch fragen, wie die Zukunft Europas aussieht, dann müssen Sie sich zwischen einem Europa entscheiden, in dem Sadiq Khan Bürgermeister von London ist, und einem Europa, in dem Sadiq Khan im Lager sitzt. Aber es ist natürlich wahr, dass es immer noch nur ein Flüchtlingslager ist. (Miljenko Jergović, Übersetzung aus dem Kroatischen: Anne-Kathrin Godec, 20.6.2016)