Die Milda in Riga symbolisiert Freiheit und Unabhängigkeit. Die drei Sterne stehen für drei lettische Regionen.

Foto: iStock / Chris Dorney

Pauls Raudseps ist Mitbegründer der Zeitung "Diena" (Tag) und des Wochenmagazins "Ir".

Foto: Pauls Raudseps

Während die Gewitterwolken über Europa immer dunkler werden, gibt es nur einen Weltführer, der den sich zusammenbrauenden Sturm lächelnd beobachtet: den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Seit russische Truppen zum letzten Mal auf der Ringstraße gesichtet wurden, sind etliche Jahrzehnte vergangen. Zwei Jahrhunderte ist es her, dass sie in Pariser Cafés saßen und den Kellnern "bistro", "rasch" auf Russisch, zuriefen – angeblich gab das dem Bistro seinen Namen.

Aber erst 22 Jahre ist es her, seit die russischen Truppen Lettland verlassen haben, und der Krieg in der Ukraine ist der blutige Beweis dafür, dass der Kreml nicht auf ein friedliches Zusammenleben und auf die Achtung vor der Souveränität seiner Nachbarn abzielt, sondern vielmehr auf die Vergrößerung seines Einflussbereichs. Der soll so weit gezogen werden wie nur möglich, und dazu ist ihm jedes Mittel recht.

Für Lettland bedeutet die EU vieles. Sie hat unserer Wirtschaft erheblichen Nutzen gebracht, dem Handel neue Möglichkeiten eröffnet, Fördergelder für Entwicklung bereitgestellt, sie hat es unserem Volk ermöglicht, frei in einer Staatengemeinschaft, die sich von Lissabon bis nach Helsinki erstreckt, zu reisen, zu arbeiten und zu studieren.

Vor allem aber bedeutet die EU-Mitgliedschaft den Höhepunkt und die anhaltende Bestätigung unserer "Rückkehr zum Westen". Sie war das oberste Ziel des lettischen Strebens nach der Unabhängigkeit von Russland.

Zukunftsängste

Die Tatsache, dass Großbritannien über einen EU-Austritt abstimmt, weckt große Zukunftsängste. Als Lette muss ich mich fragen, ob viele Europäer nicht begonnen haben, ihr Glück, so lange in Frieden und Wohlstand zu leben, für eine Selbstverständlichkeit zu halten, und ob sie sich des Risikos bewusst sind, das sie da eingehen.

Die Krisen, von denen die EU durchgeschüttelt wird, sind nicht vom Kreml erzeugt worden. Es besteht aber kein Zweifel daran, dass eine Destabilisierung Europas in seinem Interesse liegt. Nur eine vereinigte EU ist etwa imstande, die rücksichtslose Taktiererei des Gasprom-Konzerns zu zügeln. Nur sie kann Sanktionen gegen Russland wegen dessen empörender Ignoranz gegenüber dem internationalen Recht in der Ukraine verhängen.

In den Augen der Nationen, die Moskau fest im Griff behalten wollen, ist die EU trotz ihrer derzeitigen internen Turbulenzen ein Leuchtfeuer für Frieden, Wohlstand und "Normalität" geblieben. Wir dürfen nie vergessen, dass die Demonstranten, die 2014 auf dem Maidan-Platz im Herzen Kiews gestorben sind, mit der EU-Flagge gekommen waren und die Unterzeichnung eines Pakts mit der EU gefordert hatten.

Wissend, was es heißt, außerhalb dieses Stabilitäts- und Wohlstandskreises zu leben, für den die EU jahrzehntelang gesorgt hat, war ihnen der Wert jener Institutionen bewusst, die heute von zu viele Europäern als störend und unnötig abgetan werden.

Destabilisierende Elemente

Auf der anderen Seite war Moskau bemüht, die europaweite Unzufriedenheit anzufachen. Eines der Elemente, die Europa destabilisieren, sind die immer lauter werdenden extrem rechten Parteien, welche Russland als natürliche Verbündete betrachtet. Parteiführer des Front National, der österreichischen FPÖ oder der ungarischen Jobbik nehmen an Veranstaltungen in Moskau teil, treffen mit Repräsentanten des russischen Regimes zusammen und unterstützen Putins Außenpolitik.

Für den Parteichef der britischen Unabhängigkeitspartei UKIP, Nigel Farage, dessen politische Aktivitäten den Boden für das Brexit-Referendum aufbereitet haben, ist Putin der "von ihm am meisten bewunderte, beste Führer der Welt".

Kooperationen dieser Art können auch sehr konkrete materielle Vorteile bringen: 2014 erhielt Marine Le Pens Partei einen 9-Millionen-Euro-Kredit von einer russisch kontrollierten Bank, um ihren Wahlkampf zu finanzieren.

Migration als Waffe

Die Flüchtlingskrise hat zu unglaublichen Spannungen in der EU geführt, und wieder einmal gießt Moskau Öl ins Feuer. Die Propagandakanäle des Kreml haben Nachrichten über eine Gruppenvergewaltigung in Deutschland verbreitet, die frei erfunden waren. Die russische Polizei transportierte Migranten extra zur finnischen Grenze. Russische Flugzeuge bombardieren wahllos Ziele in Syrien und zwingen damit noch mehr Menschen zur Flucht aus diesem unglücklichen Land.

Kein Wunder, dass der ehemalige Kommandant der Nato-Streitkräfte in Europa, General Philipp Breedlove, gesagt hat, dass "Russland Migration absichtlich zur Waffe macht, um die europäischen Strukturen zu überfordern und Europas Entschlossenheit zu brechen".

Divide et impera, sagten die Römer. Das ist eine Lektion, die die Russen, welche ihre eigene Sehnsucht nach imperialistischer Herrschaft nicht ablegen können, nur zu gut gelernt haben.

Selbst wenn es ein Einzelfall bliebe, wäre Brexit ein schwerer Schlag für Europa. Als ein Bruch mit der europäischen Solidarität könnte es einen beängstigenden Vorgeschmack auf das bieten, was noch kommen mag.

Einzig klarer Sieger wäre Moskau, die ersten Verliererstaaten wären die, die wie Lettland am weitesten entfernt im Osten Europas liegen. Die Länder des Westens sollten sich jedoch nicht der Illusion hingeben, dass sie sicher sind. Die Russen haben eine Redewendung, die besagt: Je mehr du essen kannst, desto hungriger wirst du. (Pauls Raudseps, 20.6.2016)