Die "Goldene Frau" erinnert an die in beiden Weltkriegen und im Koreakrieg gefallenen Luxemburger Soldaten.

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Norbert M. Berens ist ein luxemburgischer Schriftsteller und Lehrer.

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Schengen, eine bis dahin eher unauffällige, kleine luxemburgische Ortschaft, wurde am 14. Juni 1985 weltbekannt. Vertreter von fünf EU-Ländern hatten dort an jenem Tag ein Abkommen unterzeichnet, das vor allem die Abschaffung der stationären Grenzkontrollen und die damit verbundene Reisefreiheit der Bürger dieser Länder zum Inhalt hatte. Weitere Länder schlossen sich diesem Vertrag in den folgenden Jahren an. Die Schleusen des Flusses Europa waren geöffnet worden.

Was das für die Menschen bedeutete, lässt sich am Beispiel Luxemburg illustrieren:

Das kleine Land wurde vor Schengen sehr stark von einem Moralsystem beherrscht, das wie ein Korsett den Menschen kaum Luft zum freien Atmen ließ. Wenn einer mit dem Auto durch ein Dorf fuhr, wusste sofort jeder, wohin er wollte, was er dort wollte und wie lange er bleiben würde.

Ein weiteres Beispiel: Etwa eine Woche vor der Öffnung der Grenzen fuhr ein Auto einen Fußgänger an und verletzte ihn tödlich. Der Fahrer beging Fahrerflucht. Es gab keinen einzigen Zeugen, die Polizei hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt.

Ein paar Tage später wurde der Todesfahrer verhaftet. Es war einer älteren Dame aufgefallen, dass ein bestimmtes Fahrzeug mit ausländischem Kennzeichen seit dem Unfall nicht mehr wie vorher täglich bei ihr am Fenster vorbeifuhr.

Kulturelle Bereicherung

Beides ist heute nicht mehr denkbar. Die Zahl der Pendler stieg nach dem Wegfall der Grenzkontrollen rasant von rund 25.000 Grenzgängern bis heute auf 121.000. Sie, sowie die dank der Freizügigkeit zahlreichen neuen Einwanderer, bringen frische Ideen, andere Mentalitäten, Wünsche und Hoffnungen mit und stellen eine unbezahlbare kulturelle Bereicherung des Landes dar.

Neue Veranstaltungsorte tragen dem Rechnung. Die Vermengung neuer Anschauungen mit den bestehenden sprengte die engstirnige Moral. Der Fluss Europa ist ein Fluss der Freiheit, aber auch der Kultur.

Ganz ähnlich verhält es sich in den anderen, den großen Ländern. Das ist ohne Zweifel eine der Chancen Europas. Auf die Angst vor Überfremdung hätte die Antwort Multikulti heißen sollen, doch dies brachte bloß ein Nebeneinander. Um ein Miteinander zu erreichen, wird man auf Toleranz, gegenseitigen Respekt und Integration, vor allem über die Landessprache, setzen müssen, wobei Toleranz nicht gleichzusetzen ist mit kritikloser Akzeptanz.

Europa stand und steht heute vor großen Herausforderungen, um das Erreichte zu erhalten und um es weiter auszubauen.

Religionen als Vorwand

Religionen werden oft als Vorwand für Konflikte und Kriege, neuerdings auch für Terrorismus, ge- und missbraucht. Deshalb muss Europa eine humanistische, religionsneutrale Gemeinschaft werden, unter Umsetzung der Erklärung der Menschenrechte von 1948 für jeden, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, sowie das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit.

Die wissenschaftliche Forschung muss weiter gefördert werden. Die Wissenschaft ist die Frieden bringende Referenz, die eines Tages Philosophie und Religion verdrängen wird, weil nicht meinend und nicht glaubend, sondern wissend.

Das Bildungswesen, die Wissensvermittlung, ist ungemein wichtig in jeder Gesellschaft. Gescheite und gebildete Menschen bringen eine Gemeinschaft nicht nur voran, sondern helfen auch, den Frieden zu erhalten, weil sie die nötige Einsicht haben. Mädchen und Jungen müssen gleichermaßen gefördert werden.

Als Schulmann, der bei den Kleinen und den Großen unterrichtet hat, war es mir unmöglich, nicht zu sehen, dass die Schülerinnen und Studentinnen ihren männlichen Mitschülern respektive Kommilitonen ebenbürtig und oft sogar überlegen waren. Eine Gesellschaft, die auf die Mitwirkung des weiblichen Teils der Bevölkerung verzichtet, muss sich den Vorwurf der Dummheit und der Verantwortungslosigkeit gefallen lassen.

Der dritte, wichtige Pfeiler in dem europäischen Staatenbund ist die Sicherheit, die innere und die an den Außengrenzen Europas. Die Sicherheitsorgane müssen über die notwendige Infrastruktur und Mittel verfügen können und eng zusammenarbeiten, und zwar auf allen wichtigen Ebenen.

Einig im Außen

Der vierte Pfeiler des Hauses Europa besteht in der Darstellung und dem Wirken Europas im Rest der Welt. Alle Länder Europas müssen als ein Ganzes zusammenstehen. Kein EU-Land darf in Eigeninitiative die Gemeinschaft in internationale Verpflichtungen hineinziehen.

Alle sollten Europa als eine "Auberge espagnole" ansehen, wo jeder das mitbringt und mit den anderen teilt, was er selbst essen will.

Dann kann er weiter fließen und immer größer und schöner werden und den Menschen eine gemeinsame Kultur, Frieden und Wohlstand bringen: der Fluss Europa. (Norbert M. Berens, 20.6.2016)