Der 35 Meter hohe Torre de Belém in Lissabon war bis ins 19. Jahrhundert ein Gefängnis und Waffenlager.

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Hélia Correia ist portugiesische Schriftstellerin, deren Werk von Romanen über Dramen bis zu Gedichten reicht.

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Das kostbarste Gut, das es in Portugal gibt, ist frei zugänglich und für alle greifbar: das Epos "Os Lusíadas", vom Dichter Luís de Camões im sechzehnten Jahrhundert verfasst. Die lusitanische Überheblichkeit, die es inspiriert, wiegt leicht vor der Schönheit der Verse und einer renaissancehaften Helligkeit, die dem Autor durch seine Ausbildung wie durch sein Leben zuteilwurden.

Seltsamerweise waren es die Deutschen, die dem Werk im 19. Jahrhundert etliche Übersetzungen gewidmet haben. Sie bewunderten die grandiose Klarheit, mit der Camões die Erinnerung und die Geschichte der Nation festgemacht hat, als wäre beides ein und dasselbe. Und wirklich, Portugal würde ohne einen solchen Text vielleicht gar nicht existieren.

Im Dritten Gesang wird das kleine Land geografisch vorgestellt: "Hier ist, fast der Scheitel des Hauptes von ganz Europa, das lusitanische Reich." Tatsächlich findet sich im Scherenschnitt seiner Küstenlinie die Andeutung eines Profils. Und der europäische Körper kommt, verformt, aus dieser edlen Spitze, wo das Meer beginnt und das Land endet.

Seit einiger Zeit häufen sich Schlagzeilen, denen zufolge Portugal sich "am Schwanz Europas" befinde, als hätte es sich zwischen der Zeit, als "Os Lusíadas" geschrieben wurde und heute wie ein Tier in die Gegenrichtung gedreht. In der Tat, wir sind in Europa in allem und hinter allen nach. Noch ein wenig mehr von diesem Rückwärtsgang, und wir würden aus der Zeichnung fallen.

Ideen und Finesse aus dem Ausland

Dabei ist es Portugal früher schlimmer ergangen. Lange vor dem 25. April 1974 fanden wir uns nicht einmal an Europas Schwanz wieder, sondern wir waren im Untergrund. Viele flüchteten vor den unterschiedlichen Polizeiinstanzen, die ständig ihre Namen änderten, aber immer gleich grausam blieben.

Es flohen die Juden, die Gebildeten, die Akademiker, die Ärzte, die Wissenschafter, die ihren rechtmäßigen Platz unter den großen Geistern Europas einnehmen durften.

Schriftsteller atmeten die frische Luft der großen romantischen, realistischen Literatur und brachten Ideen und Finesse aus dem Ausland zurück, vor allem aus Paris, wohin es die Dichter und Maler zog. Europa war das Dort-draußen, und die Bedeutung dieses Dort-draußen war allumfassend.

Dann kam die Salazar-Diktatur und trat 50 Jahre hindurch mit den Füßen alles nieder, was aufzubegehren versuchte. Es waren keine gestiefelten Füße, deren Getrampel man bis in die Maulwurfslöcher hinein gehört hätte, sondern der Inquisitor näherte sich diskret in Priester- oder Funktionärsschühchen. Er war um das Wohlwollen der Kirche ebenso besorgt wie um den Erhalt seines Regimes, für dessen Funktionieren er keine Theorie hatte und diese auch gar nicht vermisste.

Heimliche Reise nach Europa

Während dieser Zeit setzte sich die heimliche Reise nach Europa fort. Die politische und intellektuelle Elite, Landwirte, die sich im Ausland als Maurer verdingten, die Deserteure des Kolonialkriegs: Der denkende Kopf, der tätige Arm, alles floss aus, so wie Blut ausfließt, ohne je in die Vene zurückzukehren. Die einen bauten im Ausland Städte, politische Träume die anderen.

Ich verschwende mehr als die Hälfte meines Platzes, um über die Vergangenheit zu reden, wenn von mir erwartet wird, über die Zukunft zu sprechen. Aber ich musste erklären, dass wir nie voll und ganz europäisch waren. Und als wir dann zu Europa gestoßen sind, und zu Recht, weil wir uns auf dessen Niveau befanden, traten wir in der Rolle der Armen auf, um die man sich finanziell zu kümmern habe.

Auf diese Art wurde ein exzellentes Projekt in einen Midasfluch verwandelt, in einen Überfluss an Gold, der die Menschen verhungern lässt. Die Rechnung ist uns präsentiert worden. Kommt sie denn nicht immer, die Rechnung, wenn alles unter dem Diktat von Schuld und Kredit geschieht? Und die Menschen wissen, dass es immer so endet, wie es anfing. Auch Griechenland ist versklavt und geopfert worden.

Ironie der Geschichte

Europa schafft dieses Kunststück: Es existiert noch nicht, und dennoch ist seine Existenz bedroht. Ohne die Homogenität, durch die es sich definiert, sieht es in Gefahr, was in ihm homogen ist: die Menschenrechte, die Würde und die Freiheit – auf die messianische Ankunft von Gleichheit und Brüderlichkeit warten wir ja noch.

Wir sind aus der Balance geraten und unvorbereitet für den Kampf gegen die neuen alten Feinde, jene Mörder, die göttliche Worte im Mund führen. Abstoßende Wünsche, die Vertreibung desjenigen, der unserem Klan fremd ist, steigen aus dem Reptiliengehirn bis an die Stirn und schreiben dort erneut eine primitive Brutalität fest, die, gestehen wir es uns ein, dem Erhalt der menschlichen Gattung diente: den Überlebensegoismus. Weil es das Leben ist, das körperliche wie geistige, das hier in großer Gefahr ist.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass wir alles tun können, was wir wollen: demonstrieren, reden, wählen, debattieren, den Andersartigen respektieren, Sozialleistungen etablieren, das heißt Bürger in einem vertrauenswürdigen, repräsentativen Staat sein. Wir haben zu viel gefeiert, zu viel getanzt.

Ist die Dienerschaft durch Missbrauch in die Salons gekommen? Man sagt, dass wir es waren, die Faulpelze, die Gierschlünde aus dem Süden, die das Projekt zum Scheitern bringen würden. Ich für meinen Teil, eine kleine Portugiesin, will als Beispiel vorangehen, und Wischmopp und Besen holen, bevor ein Flüchtling sie mir wegnimmt. (Hélia Correia, 20.6.2016)