Das Kolosseum aus dem antiken Rom ist das größte je erbaute Amphitheater der Welt (72 bis 80 n. Chr.). Über 80 Eingänge – vier davon waren der obersten Schicht vorbehalten – konnten rund 50.000 freie Bewohner Roms bei freiem Eintritt hineingelangen, um teils sehr grausame Belustigungen wie Gladiatorenkämpfe oder Tierhetzen zu sehen.

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Luiza Bialasiewicz ist Jean-Monnet-Professorin für EU-Außenbeziehungen am Department für europäische Studien an der Universität von Amsterdam.

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Für eine proeuropäische Wissenschafterin wie mich ist eine "Vision" für die Zukunft Europas schwierig zu zeichnen, wenngleich das vielleicht heute unsere Aufgabe sein sollte. Letztes Jahr sind unzählige Appelle für ein "neues europäisches Projekt" laut geworden: ein Projekt, das sich den gegenwärtigen Herausforderungen stellen und insbesondere eine Alternative bieten kann zu Nationalismus und Populismus, die immer gefährlicher werden und die Union auseinanderzureißen drohen.

Diesen Appellen liegt das Verständnis zugrunde, dass das Übel, das die EU heute heimsucht, eine "Werte- und Ideenkrise" ist und dass es diese tiefgreifende Krise ist, die die Grundlage für den politischen Virus "Populismus" bietet, einen Populismus, der einfache und eindrucksvolle Antworten bietet.

Krise der Ideen und Werte

Diese "Ideenkrise" ist weder neu, noch kam sie überraschend. Seit den frühen 1990er-Jahren – in einer Zeit, in der sich das Europäische Konstrukt schnell verändert und sowohl seine territoriale Ausdehnung als auch seine Kompetenzen ausgeweitet hat – haben sich Wissenschafter Gedanken darüber gemacht, was aus dem Projekt der europäischen Einigung wird und was aus ihm werden könnte.

Tommaso Padoa-Schioppa kommentierte bereits vor einem Jahrzehnt, dass sich Europa schon lange von dem Epos entfernt habe und nicht mehr auf Leidenschaften, sondern auf Interessen beruhe. Für den scharfsinnigen Beobachter war "Europa nicht mehr auf der Suche nach einem höheren Gut, sondern schlicht auf der Suche nach Wohlstand".

Vielleicht hielt dieses Gerüst auch ohne große "Leidenschaften", zumindest solange dieser Wohlstand für einen großen Teil der Europäer greifbar war. Aber es scheint, das dem nicht mehr so ist.

Obama und Papst Franziskus

Es ist bezeichnend, dass in dieser Krise, in der nach neuen "leidenschaftlichen" Idealen gesucht wird, ausgerechnet zwei außenstehende Figuren den Versuch wagten, die Europäer an ihre Rolle und Verantwortung – innerhalb und außerhalb der EU-Grenzen, zu erinnern.

Die erste dieser beiden Figuren war US-Präsident Obama während seiner Europa-Tour im April 2016, als er in einer Rede in Hannover davor warnte, welche Gefahren drohen, wenn "ein geeintes, friedliches, liberales und pluralistisches Europa beginnt, an sich zu zweifeln".

Es wäre leicht, Obamas mahnende Worte als simple geopolitische Geste zur Unterstützung wichtiger Verbündeter in der EU abzutun. Nichtsdestominder sollten wir uns fragen, wieso Obamas Bitte an "die Völker Europas, nicht zu vergessen, wer ihr seid", so viel Aufmerksamkeit erhalten hatte.

Der zweite Fall ist für mich noch verblüffender und ereignete sich im Mai dieses Jahres anlässlich der Verleihung des Karlspreises – eines Preises "für den Beitrag im Dienste der Europäischen Einigung" – an Papst Franziskus.

Inmitten von Jean-Claude Juncker, Martin Schultz, Donald Tusk und Staats- und Regierungschefs der EU mahnte Papst Franziskus in einer leidenschaftlichen Ansprache, dass es Teil der Seele Europas sei, sich "wieder aufzurichten und aus den eigenen Grenzen hinauszugehen" und forderte die versammelten Führungspersönlichkeiten dazu auf, sich an den Gründungszweck der EU zu erinnern, nämlich "ein Europa, das die Rechte des Einzelnen fördert und schützt, ohne die Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft außer Acht zu lassen".

Bei der Verleihung scherzten Juncker und Schulz ihrerseits, dass die EU in großen Schwierigkeiten sein müsse, wenn sie beim Papst Rat suchen muss. Im Fokus der Aufmerksamkeit hätte jedoch nicht die Ironie einer päpstlichen Intervention selbst sein sollen, sondern die tiefer liegenden "zeitlichen" Gründe, die er für diese "Glaubenskrise" verantwortlich machte.

Das Vertrauen in das Projekt Europa ging nicht einfach deshalb verloren, weil die Europäer aufgehört haben, daran zu glauben. Der Vertrauensverlust ist ein Resultat der wachsenden Kluft zwischen dem "europäischen Ideal" des geteilten Wohlstandes und der alltäglichen Realität vieler Europäer. Europa ist zu einem zutiefst gespaltenen Ort geworden.

Kultur des Zweifels

Auf der Suche nach einer neuen Vision für Europa können wir daher die politischen Wunschvorstellungen nicht von den politisch-wirtschaftlichen trennen. Großartige neue Ideale werden ohne Maßnahmen für eine inklusivere Union nicht ausreichen, um dieser "Kultur des Zweifels" entgegenzutreten, die so viele Europäer vor den Kopf gestoßen hat.

Wir sollten nicht den Papst dafür brauchen, um uns daran zu erinnern. Doch genau damit schloss Papst Franziskus seine Ansprache. Er mahnte die versammelten EU-Chefs, dass "wir uns kein anderes Europa vorstellen können, wenn wir jungen Europäern keine würdige Arbeit geben, wenn Europa keine neuen Wirtschaftsmodelle bieten kann, die in höherem Maße inklusiv und gerecht sind und nicht darauf ausgerichtet sind, nur einigen wenigen zu dienen, sondern vielmehr dem Wohl jedes Menschen und der Gesellschaft."

Eine starke Vision für die Zukunft Europas ist zu diesem historischen Zeitpunkt wichtig, aber ein "neues und verbessertes" europäisches Projekt muss in erster Linie gerechte soziale, wirtschaftliche und politische Rechte für alle garantieren, damit jene, die sich heute von Europa im Stich gelassen fühlen, sich nicht unweigerlich jenen politischen Kräften zuwenden, die ihnen versprechen, sie vor ebendiesem Europa zu schützen. (Luiza Bialasiewicz, 20.6.2016)