"Ich bin schockiert, wie unbedarft immer noch Wirtschaftstheorien, die von der Industrialisierung geprägt sind, auf das Gesundheitswesen angewendet werden", sagt die Schweizer Ökonomin Mascha Madörin.

Foto: Ursula Häne

STANDARD: Halten Sie die Einbeziehung einer geschlechtlichen Dimension in die Analyse des Finanzsystems für wichtig? Warum?

Mascha Madörin: Das Finanzsystem ist extrem männerdominiert, die Sprache an der Börse sexistisch, es ist von einem ausgeprägten Männlichkeitskult beherrscht, der anders ist als beim Fußball, aber ebenso ausgeprägt. Dazu kommen die Analysen der Auswirkungen von Finanzkrisen auf Frauen und Geschlechterverhältnisse. Während der Schuldenkrisen der 1980er und 1990er-Jahre wurde dies zu einem wichtigen Thema in internationalen Netzwerken von Fachfrauen.

STANDARD: Wie wird in der feministischen Ökonomie Wirtschaft gedacht?

Madörin: Es gibt verschiedene theoretische Ansätze. Allen feministischen Ökonominnen ist gemeinsam, dass sie sich mit der Sorge- und Versorgungswirtschaft befassen – mit der Care-Ökonomie im weitesten Sinn. Letztlich geht es um eine neue Wohlfahrtsökonomie. Die Care-Ökonomie ist sehr anders organisiert als das, was wir üblicherweise als "Wirtschaft" bezeichnen. Für mich, die sich vor allem mit makroökonomischen Fragen befasst, sind zwei Fragen wichtig: Wie können unbezahlte Arbeit und die Care-Ökonomie generell als Teil der Dynamik der ganzen Wirtschaft analysiert werden, und wie als Teil der Geldwirtschaft?

STANDARD: Was unterscheidet Sorge- und Pflegearbeit von Industrieproduktion?

Madörin: Für mich als Makroökonomin ist die Frage der Zeitökonomie sehr wichtig. Man kann nicht immer schneller pflegen, aber immer schneller und mit weniger Arbeitsaufwand Autos produzieren. Das hat große Auswirkungen auf die Preis- und Kostenverhältnisse, die noch kaum ein Thema in der Mainstream-Ökonomie sind. Dazu kommt die Zeitökonomie der PatientInnen: nicht alle reagieren gleich auf Pflege, erholen sich gleich schnell oder geraten in den gleichen Zeiträumen in Krisen. Ich habe nun mehrere Jahre kritisch zur Gesundheitsökonomie gearbeitet. Ich bin schockiert, wie unbedarft immer noch Wirtschaftstheorien, die von der Industrialisierung geprägt sind, auf das Gesundheitswesen angewendet werden.

STANDARD: Was hat Sie zur feministischen Ökonomie gebracht?

Madörin: Die neue Frauenbewegung. Sie begann feministische Ökonomie zu thematisieren. Für mich persönlich waren dann die Debatten in internationalen Frauennetzwerken wichtig, die zur Schuldenkrise in afrikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen Ländern in den späten 1980er-Jahren begannen. Es war der Auftakt zu neuen Analysen und theoretischen Arbeiten, die mich fachlich sehr interessiert haben.

STANDARD: Was bedeutet für Sie Gleichberechtigung?

Madörin: Als Ökonomin stelle ich fest, dass die Situation der Frauen in der Erwerbsarbeit, die ungleiche Verteilung der bezahlten und unbezahlten Arbeit, die Wirtschaftspolitik des Staates, die Sozialversicherungs- und Steuersysteme immer noch als riesige Umverteilungsmaschine zu Ungunsten von Frauen funktionieren. Das muss sich ändern.

STANDARD: Wer hat Sie wissenschaftlich geprägt?

Madörin: Ich habe während meines Studiums noch mehrere wirtschaftstheoretische Denktraditionen kennengelernt, habe effektiv eine plurales Öknomiestudium gehabt. Das vermittelt einem eine Freiheit des Denkens: dass wir nämlich das Ganze respektive ökonomische Zusammenhänge auch anders denken könnten. Ich habe vor allem bei einem Professor der institutionellen Ökonomie studiert und abgeschlossen. Diese Denktradition spielt immer noch eine wichtige Rolle in den heutigen heterodoxen Debatten. Dazu kamen die marxistischen Kontroversen innerhalb der 1968er Bewegung und unsere Kritik der Volkswirtschaftslehre an den Universitäten.

STANDARD: Sie haben in den 1970er-Jahren in Moçambique gelebt und gearbeitet – Was haben Sie von Afrika gelernt?

Madörin: Afrika ist ein riesiger Kontinent, mit sehr unterschiedlichen Ländern. Was mich als feministisch Engagierte faszinierte, war die Unterschiedlichkeit der gesellschaftlichen Systeme und Ökonomien in den verschiedenen Regionen von Moçambique: Im Süden extrem patriarchale Gesellschaften, im Zentrum Gesellschaften, wo die Männer in die Familien der Frauen heirateten und nicht umgekehrt, im Norden war es nochmals anders. Für mich war es eine wichtige Einsicht, dass Sie in der gesellschaftswissenschaftlichen Forschung nicht immer die gleichen Kategorien und Theorien anwenden können. Das ist eine große wissenschaftliche Herausforderung.

STANDARD: Sie haben die Antiapartheidbewegung in die Schweiz gebracht – Warum war Ihnen das wichtig?

Madörin: Nein, das stimmt nicht. Die Antiapartheidbewegung war schon da, als ich zurück kam aus Moçambique. Ich war eine führende Figur in Sachen Wirtschaftssanktionen gegenüber Südafrika. Ich fühlte mich zudem dem Antiapartheidkampf im Südlichen Afrika sehr verbunden.

STANDARD: Sie haben sich ab den 1980er-Jahren stark mit dem Bankensektor beschäftigt – Was halten Sie von der Gemeinwohlökonomie und der Idee von Alternativbanken?

Madörin: Ich finde das alles wichtig. Die Aktion Finanzplatz Schweiz, bei der ich arbeitete, war eine der GründerInnenorganisationen, welche sich am Aufbau einer Alternativbank beteiligt hat. Ich halte alle Versuche, wirtschaftliche Tätigkeiten auf lokaler und regionaler Ebene menschenfreundlicher, sozial nützlicher und ökologisch nachhaltiger zu gestalten, für sehr wichtig. Nur müssen wir uns auch kritisch mit politökonomischen Fragen der Steuerung der Wirtschaft befassen, mit den Zentren der Macht.

STANDARD: Haben wir bzw. die EU etwas aus der Finanzkrise 2008 gelernt?

Madörin: Nein, es ist furchtbar. Diese Politik führt zu einer Verlängerung der Wirtschaftskrise, zu Destabilisierung und politisch und wirtschaftlicher Zerrüttung von Euroland. Von den sozialen Auswirkungen gar nicht zu reden. (Tanja Paar, 22.6.2016)