Die Hebrideninsel Staffa besteht vorwiegend aus vulkanischem Gestein und ist durch eine Basaltbrücke unter der Meeresoberfläche mit Irland verbunden.

Foto: Nicole Quint

Hat sich das Licht im Land geirrt? Es ist früh am Tag. Gerade verlässt die Fähre den Hafen von Oban, und der Himmel behauptet, er hinge über der Südsee. Die Sonne geht auf und legt einen blitzenden Strahlenkranz über das tiefblaue Meer. Das Grün der Gräser entflammt in Gold und Kanariengelb. Farben wie in einem nachkolorierten Schwarzweißfilm. Es ist das Licht der Hebriden. Das Licht, von dem der schottische Dichter Don Paterson behauptet "the first touch of the light will finish you". Kurz nach sieben Uhr früh, und schon das Ende? Die Reise hat doch gerade erst begonnen.

Sie führt nach Iona, eine Insel der Inneren Hebriden. Leicht zu erreichen ist sie nicht. Von Glasgow aus fährt man erst an die Westküste Schottlands, setzt vom alten Wollhandelshafen Oban mit der Fähre auf die Insel Mull über, nimmt dort den Bus, der einen bis ans andere Ende von Mull bringt, von wo dann eine weitere Fähre endlich Iona ansteuert und man mitten im schottischen Klischee landet: violettes Schimmern der Heide zur Linken, baumlose, von Granitfelsen durchzogene Hügel zur Rechten. Moos kriecht an den Mauern einer uralten Klosterruine empor und Schafe weiden auf Marschwiesen.

Ein Jerusalem des Nordens

Auf Ionas einziger Straße, "The Street" genannt, fahren nur selten Autos. Mal kommt eine Katze um die Ecke, meist niemand – der übliche Wochentagsverkehr. Die 130 Bewohner leben in "The Village", hinter schützenden Hügeln an der Ostseite der Insel. Auf die Westküste prügeln die wilden Wellen des Atlantiks ein. Der Gruß zur Verabschiedung auf Iona lautet: "Bis morgen." Man wird sich treffen, garantiert.

Nur zwei Kilometer breit und fünf Kilometer lang ist die Insel, die man auf Google Maps kaum findet. Auf der Landkarte des Glaubens ist sie hingegen als Jerusalem des Nordens markiert, als Startpunkt der Christianisierung Schottlands, ja sogar ganz Nordeuropas. Zuständig für diese großangelegte Aktion war der irische Mönch Columba, der 563 n.Chr. nach Iona kam, dort eine Abtei gründete und gleich mit der Christianisierung loslegte. Bis nach Skandinavien, Russland und in die Schweiz kamen seine missionierenden Mönche. Die Daheimgebliebenen erfanden das Keltenkreuz und – sorry, liebe Iren – erschufen auch das legendäre Book of Kells. Nach Irland wurde es erst zum Schutz vor plündernden Wikingerhorden gebracht.

Trockene Auferstehung

Die heute auf Iona zu besichtigende Abtei ist ein Wiederaufbau einer Anlage aus dem 12. Jahrhundert. Von Columbas Kloster blieb allein der Reilig Odhrain, der vermutlich begehrteste Friedhof der Christenheit. Bei den Einheimischen muss er jedenfalls hoch im Kurs stehen, denn laut Legende wird beim Weltuntergang alles im Meer versinken, nur Iona nicht. Wer will schon pudelnass vor dem jüngsten Gericht erscheinen?

Mit der Aussicht auf eine trockene Auferstehung ließen sich über 60 schottische, irische und nordische Könige auf Ionas Friedhof bestatten, darunter auch Duncan und Macbeth – das Opfer und sein Mörder. Nachzulesen bei Shakespeare, aber leider nicht mehr zu beweisen, denn ihre Gräber sind längst verschwunden. Besucher, die sich auffallend lange auf dem Reilig Odhrain aufhalten, pausenlos prüfende Blicke über die Gräber schweifen lassen, Steine aufheben und fotografieren, suchen nicht nach Macbeth. Auch nicht John Smith. Das Grab des hochverehrten Vorsitzenden der Labour Partei ist auch mehr als 20 Jahre nach seinem Tod unübersehbar mit Blumen und Steindekor geschmückt. Das Ziel der Sucher ist keine Grabstelle, sondern ein flacher Stein.

Generationen von Pilgern haben auf diesem Stein einen Kiesel dreimal im Uhrzeigersinn gedreht. Wenn seine Mitte durchgerieben und ein Loch entstanden ist, endet die Welt. Selbst am Weltuntergang drehen, können Besucher heute nicht mehr. Der Clach bràth, der Urteilsstein, musste ins Iona-Abbey-Museum umziehen. Man kann sehen, dass eine Vertiefung entstanden ist, allerdings nur eine ganz kleine. Selbst wenn der Schicksalsstein wieder genutzt würde, könnte die Welt wohl noch auf eine lange Frist hoffen.

Mitten ins Meer gestellt

"The Street" ist kurz, endet aber nicht am Abtei-Friedhof. Wer gen Norden in die Weite spaziert, dorthin, wo sich die letzten Farmhäuser zerstreuen, versandet unter einem weiten Himmel, an dessen Horizont der Stoff für weitere Legenden liegt – die Insel Staffa. Mitten ins Meer gestellt, unbewohnt und bei Reisenden genauso beliebt wie bei Papageientauchern. Oft eskortieren Delfine die kleinen Boote, die von Iona aus über die Wellen nach Staffa schaukeln, als wüssten sie, dass der Besuch eines besonderen Ortes einen besonderen Auftakt verdient.

Den Namen Staffa, "Insel der Stäbe", gaben ihr die Wikinger, die schönste Schöpfungssage aber schenkten ihr die Iren: Der irische Riese Fionn hatte seinen schottischen Gegner Benanndonner zum Duell gefordert, musste aber erst massenhaft Steine ins Meer werfen, um über den so entstandenen "Damm der Riesen" seinen Rivalen zu erreichen. Tatsächlich existiert eine durchgängige, unter Wasser liegende Basaltbrücke. An ihrem einen Ende ragt der Giant’s Causeway in Nordirland heraus, an ihrem anderen die Insel Staffa, die vor 60 Millionen Jahren als Lava ausgespuckt wurde.

Perfekte Geometrie

Das Spektakuläre daran? Fast alle Säulen haben eine sechseckige Form. Perfekte Geometrie, ganz ohne Lineal. Über eine mutprobentaugliche Treppe kann man Staffa aufs grasbewachsene Dach steigen und dem Meer lauschen.

Stolze Schotten glauben, dass Fremde die Lieder der Hebriden nicht verstehen können, weil der Gesang des Atlantiks nur gälische Herzen erreicht. Irrtum! Felix Mendelssohn Bartholdy fand auf einem Ausflug nach Staffa die Töne, die später als Hebriden-Ouvertüre bekannt wurden. Gewidmet hatte er sie Staffas schönster Höhle – Fingal’s Cave. Er besuchte die Insel bei tosender See, als Sturmböen durch die abgebrochenen Basaltsäulen wie durch Orgelpfeifen brausten. Bei sanften Brisen blubbert und summt es in Fingalshöhle nur. Doch zum Schlussakkord macht die Welt hier ein Bäuerchen in melancholischem Moll. Sage noch einer, Touristen verstünden kein Gälisch. (Nicole Quint, 29.6.2016)