Vor einem Jahr um diese Zeit fühlte sich EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (re.) von Alexis Tsipras "verraten". Der hatte die Verhandlungen mit den Kreditgebern abgebrochen und ein Referendum angesetzt. Jetzt kam Juncker wieder nach Athen. Für neue Sparmaßnahmen gab es am Dienstag eine Kreditrate von 7,5 Milliarden Euro. Griechenland habe eine "kritische Etappe" genommen, sagte Juncker.

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Ein einzelner Buchstabe hat sich im Lauf eines Jahres geändert, aber auch die politische Seele einer Regierung. Aus dem Grexit ist Brexit geworden, und Alexis Tsipras, der einstige linke Sparkursrebell, redet nun und findet kein Ende, legt immer wieder die Stirn in Falten, um Besorgnis zu signalisieren, während Jean-Claude Juncker neben ihm steht und nach Luft schnappt wie ein Fisch an Land. "Viel zu heiß in Griechenland", ächzt Juncker am Ende des gemeinsamen Auftritts am Dienstag in der Villa Maximou, dem Amtssitz des griechischen Premiers in Athen. "Ich bin nicht gemacht für diese Temperaturen", sagt der Gast aus Brüssel.

Dabei ist die Hitzewelle über Athen schon am Abebben. Alexis Tsipras sieht erholt aus. Der verrückte Druck bezüglich ununterbrochener Notfallentscheidungen wie im Grexit-Jahr 2015 ist weg. Einen Teil des verlängerten orthodoxen Pfingstwochenendes muss Tsipras für ein Sonnenbad genutzt haben. Doch die viel zu lang geratenen Ausführungen am Rednerpult in der Halle der Villa Maximou mit dem EU-Kommissionspräsidenten an der Seite, der auf seinen Einsatz wartet, spiegeln recht gut Tsipras' derzeitige Verfassung wider: den Gefallen, den er an seinem Amt gefunden hat, und die gewisse Ziellosigkeit nach den großen Anstrengungen mit der politischen Kehrtwende und dem neuen Sparprogramm, das er seinen Griechen auferlegt hat. "Wir brauchen mehr Europa, nicht weniger", sagt Tsipras über das EU-Referendum der Briten am Donnerstag und macht wieder die Sorgenstirn.

Neue Schulden für alte

Neben Juncker ist auch Klaus Regling, der Chef des Eurorettungsschirms ESM, in der Stadt. Es ist Zahltag. Griechenland erhält wieder eine Kreditrate, über Monate zäh verhandelt. 7,5 Milliarden Euro werden im Lauf des Tages überwiesen, kündigt Regling an. Der größte Teil der neuen Schulden wird wie üblich für die Bedienung der alten Schulden verwendet, aber 1,8 Milliarden Euro darf der griechische Staat immerhin zur Begleichung von Rückständen bei Privatunternehmen hernehmen. Im Wesentlichen geht es dabei um die Auszahlung einbehaltener Mehrwertsteuer. Davon versprechen sich alle mehr Liquidität für die griechische Wirtschaft und Investitionen.

Griechenland habe eine "kritische Etappe" genommen, versichert Juncker. Griechenland habe durch die schwierigen Reformen Wettbewerbsfähigkeit zurückgewonnen, erklärt der deutsche Finanzfachmann Regling. Ein halbes Dutzend Mal taucht das Wort in Reglings Rede im heruntergekommenen Finanzministerium am Syntagma-Platz in Athen auf. Der Hausherr dort hört zu und nickt zustimmend. Viel ist über einen Rücktritt von Euklid Tsakalotos nach dem Abschluss dieser langen Verhandlungsrunde geredet worden. Der marxistische Wirtschaftsprofessor mit dem Knautschgesicht und dem roten Rucksack hat exekutieren müssen, was Alexis Tsipras im Juli vergangenen Jahres in einer Brüsseler Nacht akzeptierte – einen dritten Rettungskredit für Griechenland mit Auflagen: bis zu 86 Milliarden Euro im Gegenzug für neue Sparmaßnahmen in Höhe von drei Prozent der Wirtschaftsleistung oder 5,4 Milliarden Euro bis 2018. Die Hälfte hatte die linksgeführte Regierung von Tsipras im Herbst 2015 geschafft. Jetzt bekommen die Griechen auch die zweite Hälfte der Abgaben- und Steuererhöhungen zu spüren.

Alles teurer

Benzin ist seit Juni teurer geworden, Bier und Wein sind es auch, abgepackte Lebensmittel, Haushaltsartikel, Fahrscheine für die U-Bahn in Athen und für die Fähren über die Ägäis. Der Inselrabatt ist sowieso weg. Die Mehrwertsteuer, um einen weiteren Punkt auf nun 24 Prozent hinaufgesetzt, gilt auch dort. Das macht den Urlaub für Touristen teurer. Die Streiks kommen hinzu. Mit einiger Fassungslosigkeit verfolgen die Geschäftsleute die Blockaden der Hafenarbeiter in Piräus und Thessaloniki. Passagiere von Kreuzfahrtschiffen mussten ihre Koffer bereits allein über das recht weite Hafenareal von Piräus schleppen, weil die Gewerkschaft der Hafenarbeiter keine Busse zu den Anlegestellen ließ.

Einen Streik von Bodenpersonal und Flugsicherung diese Woche konnte die Regierung gerade noch abwenden. U-Bahnen und Züge stehen aber jeden Tag abwechselnd still. Die Anwälte gehen schon seit Monaten nicht mehr zu Gerichtsterminen, die Landwirte brüten über einen Neustart ihrer Straßenblockaden. Während die Gewerkschaften gegen die Privatisierungen anrennen, die Tsipras und seine linksgerichtete Partei unter Druck der Gläubiger akzeptierten, machen die Freiberufler gegen die große Pensionsreform mobil. Für jeden gilt nun im Prinzip der Beitragssatz von 20 Prozent. Eine Revolution im Griechenland der Klüngel- und Cliquenwirtschaft.

"Man muss sie bestrafen"

Revoltiert aber auch die Gesellschaft? Abseits der Gewerkschaften und der Anwältevereinigung herrscht weit mehr Resignation. Eine Protestbewegung, die sich im Internet unter dem Kampfruf "Tretet zurück!" bildete, hat bei ihrer ersten Kundgebung vergangene Woche auf dem Syntagma-Platz nur wenige Tausend angezogen. Der Ton war radikal, fast nihilistisch. "Man muss sie bestrafen", sagte dort eine ehemalige Tsipras-Wählerin: "Jemand muss für dieses Elend bezahlen, in das mein Land geraten ist, damit der Nächste, der auf der Regierungsbank sitzt, Angst hat." (Markus Bernath aus Athen, 21.6.2016)