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Für den ehemaligen slowenischen Präsidenten Milan Kučan war die wirtschaftliche und politische Ungleichheit die Grundlage für den Nationalismus in Jugoslawien.

Foto: REUTERS/Nikola Solic

STANDARD: Diese Woche geht es nicht nur um den 25. Jahrestag der Auflösung Jugoslawiens, es haben auch die Briten für einen EU-Austritt gestimmt. Sehen Sie ähnliche Gründe für die Auflösung Jugoslawiens wie für die Absetzbewegungen von der Europäischen Union?

Kučan: Der Brexit wäre kein Weltuntergang. Er zeigt aber die Probleme auf, die nicht gelöst wurden. Als die Gründerväter keine Rolle mehr gespielt haben, wurde zu technisch und pragmatisch agiert. Solidarität, wie sie in den Römischen Verträgen zugrunde gelegt ist, wurde anders verstanden als heute. Das zeigen die Griechenland-Krise und die Flüchtlingskrise. Es spricht vieles dafür, dass man Aspekte betrachtet, die beim Zerfall Jugoslawiens eine Rolle gespielt haben, nämlich erstens: die Gleichheit der Mitglieder. Offiziell waren zwar alle gleich, aber manche waren gleicher. Zweitens: Neben der Gleichheit muss auch die Funktionalität gewährleistet sein. Drittens: Wie löst man die Unterschiede in der wirtschaftlichen Stärke? Einerseits gibt es starke Staaten wie Deutschland und die skandinavischen Länder, andererseits schwächere Staaten wie Bulgarien. Das war bei Jugoslawien ebenfalls das Problem. Es gab zwar einen Mechanismus, aber der war nicht erfolgreich.

STANDARD: Ende der 1980er-Jahre nahm auch der Nationalismus in Jugoslawien stark zu. Und dieser wächst auch jetzt in Mitteleuropa stark.

Kučan: In diesem Punkt glaube ich weniger an Parallelen. Eine mögliche Ähnlichkeit ist aber die gesellschaftliche Krise. In solchen Situationen beginnen Staaten, an sich zu denken. Es ist legitim, dass jeder Staat seine Interessen verfolgt. Das Problem entsteht erst, wenn das Verfolgen dieser Interessen auf Kosten anderer geht. In Jugoslawien ging es genau darum. Der Nationalismus hatte die wirtschaftliche und politische Ungleichheit als Grundlage. In der EU ist es ein wenig anders. Ich sehe nicht, dass ein Staat auf Kosten eines anderen Interessen verfolgt. Man sieht eher einen Mangel an Solidarität. Das partielle Interesse eines Staates wird wichtiger als jenes der größeren Einheit.

Die radikalen Nationalismen in Polen, Ungarn und den baltischen Staaten können aber tatsächlich zum Zerfall führen. Wenn Europa zerfällt, kann es zwischen den einzelnen Staaten zu Konflikten kommen, der gemeinsame Markt würde wegfallen. Das könnte zu einem Wirtschaftskrieg führen. Wenn es um Großbritannien geht, so hat es schon immer gezeigt, dass es Mitglied der EU ist und gleichzeitig nicht. Ich bin überzeugt, dass es im Interesse aller wäre, wenn Großbritannien in der EU bleibt. In Miloševićs Zeiten galt der Sinnspruch: Serbien kann ohne Jugoslawien bestehen, aber Jugoslawien nicht ohne Serbien. Und ähnlich sehe ich das beim Brexit.

STANDARD: Welche Politik wäre nun wichtig, um ein Auseinanderbrechen der EU zu verhindern?

Kučan: Es ist vor allem Mut erforderlich. Die europäischen Führer sollten zusammenkommen und sich die simple Frage stellen: Welches Interesse haben wir, zusammen zu sein? Und welche Werte teilen wir? Die Angst vor Putin allein kann kein Identitätsfaktor sein. Auch die Interessen der USA sind es nicht. Europa ist Teil der globalisierten Welt, und in dieser Welt müssen wir schauen, wie wir unsere Position stärken.

STANDARD: Gab es vor dem Krieg in Slowenien Unterstützung für die Anerkennung der Unabhängigkeit Sloweniens und Kroatiens von Deutschland?

Kučan: Als es dem deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher unmöglich gemacht wurde, nach Slowenien zu kommen, konnte er sich davon überzeugen, dass es Krieg gibt. Er kam von Belgrad nach Klagenfurt und konnte nicht weiter nach Ljubljana. Dann hat er mit seinen Kollegen in der Europäischen Gemeinschaft gesprochen und ihnen gesagt, dass der Krieg beendet werden soll. Von Versprechen vorher weiß ich nichts.

STANDARD: Haben Sie mit Genscher oder Kohl vor der Unabhängigkeitserklärung gesprochen?

Kučan: Natürlich gab es zahlreiche Gespräche. Es war ja wichtig, dass die europäischen Führer die slowenische Position kennenlernen, weil bis dahin vor allem aus Belgrad die Informationen kamen.

STANDARD: Haben Sie erwartet, dass die Jugoslawische Volksarmee in Slowenien angreift?

Kučan: Wir haben erwartet, dass der Zerfall Jugoslawiens blutig sein könnte, deshalb haben wir uns darum bemüht, dass das geordnet über die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa abläuft. Wir haben aber auch damit gerechnet, dass das in Slowenien kämpferisch sein könnte.

STANDARD: Weshalb ist es blutig verlaufen?

Kučan: Es gibt nicht nur einen Grund, aber ein gewichtiger Grund war Slobodan Milošević. Doch auch von kroatischer Seite gab es das Blut-und-Boden-Prinzip, also die Idee von ethnisch gesäuberten Territorien. Das größte Opfer dieser Ideologie war Bosnien-Herzegowina, als Franjo Tuđman und Slobodan Milošević das Land aufteilen wollten. Aber es war auch eine Frage, die die politische Führung der Armee betraf. Von Titos Tod bis zum Beginn des Zerfalls Jugoslawiens hat sich die Jugoslawische Volksarmee als Verwalterin seines Erbes verstanden. Und aus dieser Logik sind auch die Geschehnisse in Slowenien zu verstehen. Das hat sich dann geändert, als die Führungsspitze der Armee zum Erfüllungsgehilfen Miloševićs wurde. Als die Armee aus Slowenien abrückte, ging sie in jene Gebiete Bosniens, die das serbische Territorium abgrenzen sollten. Das war dann keine jugoslawische Armee mehr, sondern eine serbische.

STANDARD: War der Slowenien-Krieg ein Wendepunkt hin zu mehr Unterstützung des Westens?

Kučan: Leider sind Sloweniens Bemühungen vorher nicht gehört worden. Aber ich verstehe das, weil Jugoslawien in der Zweiteilung zwischen Ost und West eine Vermittlerrolle innehatte. Man konnte diese Sichtweise nicht so schnell ändern. Die Idee Jugoslawiens als Pufferzone bestand noch immer, und man tat sich schwer, neue Sichtweisen zu eröffnen. Der zweite Grund war, dass man sich kaum mit der Realität konfrontieren wollte, dass in Europa nach fünfzig Jahren wieder Krieg herrscht. Und der dritte Grund war: Man hatte Angst, dass der Zerfall Jugoslawiens ein schlechtes Beispiel für die Sowjetunion sein könnte.

STANDARD: Das Brijuni-Abkommen hat den Krieg in Slowenien beendet. Weshalb sind die Gespräche danach, als es um Kroatien und Bosnien-Herzegowina ging, gescheitert?

Kučan: Es ging in Brijuni nur darum, wie der Krieg in Slowenien beendet werden sollte. Im Oktober hat die Armee dann Slowenien verlassen. Trotz scharfer Bedingungen, die an Slowenien gestellt wurden, ist es Slowenien durch vertrauensvolle Zusammenarbeit gelungen, das alles positiv zu gestalten. Es war klar, dass es zum Krieg in Kroatien kommen wird. Der Hauptgrund war, dass in Kroatien in dem Gebiet, wo die Serben lebten, der Konflikt nicht auf zivilisierten Weise gelöst werden konnte. Als die neue kroatische Verfassung angenommen wurde, ist das Problem virulent geworden. In der kroatischen Verfassung innerhalb von Jugoslawien hieß es, dass Kroatien ein Staat für Kroaten und Serben, die in Kroatien leben, sei. In der neuen kroatischen Verfassung wurde der Staat als Staat der Kroaten definiert. Für die Serben in der Krajina, die von Milošević bereits vergiftet waren, war das der formelle Grund, dagegen zu sein. Der Krieg war ja dort viel brutaler als in Slowenien.

STANDARD: Das würde aber bedeuten, dass Milošević den Krieg schon lange zuvor beschlossen hatte.

Kučan: Milošević wollte einfach ein Großserbien, und bei den Mitteln, das zu erreichen, war er nicht zimperlich.

STANDARD: Hat ihn die Europäische Gemeinschaft falsch eingeschätzt?

Kučan: Ja, absolut. Lange Zeit war das Bild von Milošević vollkommen falsch.

STANDARD: Es gibt in Slowenien verschiedene Versionen, weshalb der Krieg nach zehn Tagen beendet wurde oder gewonnen wurde. Die erste Version: Der Krieg war so schnell zu Ende, weil es in Slowenien keine Serben gab und Milošević also gar keinen Krieg wollte. Die zweite Version ist: Die Slowenen haben militärisch gut gekämpft und viele Gefangene genommen. Die dritte Version lautet: Es war nur ein Warnschuss, ein Signal gegenüber Kroatien und Bosnien-Herzegowina. Welcher Version neigen Sie zu?

Kučan: Die dritte Interpretation schließe ich aus. Aber die Slowenen und die Serben haben seit dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie Jugoslawien anders gesehen. Für die Serben war Jugoslawien ein Staat, der ihnen gewährleistete, dass alle Serben in einem Staat leben. In dieser Denklogik sollte Jugoslawien vor allem den Serben dienen. Klar ist auch, dass diese Denklogik für Kroaten und Slowenen nicht annehmbar war. Wir haben Jugoslawien auf dem Prinzip der Gleichberechtigung gesehen. Jugoslawien sollte allen dienen und kein serbisches Projekt sein. Die Politik Miloševićs fand das ideologische Unterfutter im Memorandum der Intellektuellen der Serbischen Akademie der Wissenschaften. Das Interesse, dass Slowenien im Staatenbund verbleibt, war in diesem Sinne für diese Leute nicht primär. Sie haben gewusst, dass Jugoslawien zerfallen wird, und sie haben darüber nachgedacht, wie sie die Serben in einem Staat zusammenfassen können.

Dadurch, dass es in Slowenien keine serbische Minderheit gab, war Slowenien nicht relevant. Es war aber umgekehrt nicht so, dass es überhaupt kein Interesse gab, dass Slowenien in Jugoslawien bleibt. Sie waren nicht wahnsinnig froh, aber sie haben das nicht verhindert und haben ein Gesetz über die Abspaltung vorgeschlagen. Dieses Gesetz sollte den Rahmen festlegen, unter welchen Bedingungen die Ablösung passieren sollte. Es sollte auf Grundlage der Mehrheit im jugoslawischen Parlament verfasst werden, aber die Mehrheit hatten die Serben. Und Slowenien hat das abgelehnt. Es war vor allem im Interesse des politischen Arms der Armee und des kroatischen Politikers Ante Marković, dass Slowenien nicht unabhängig wird.

STANDARD: Aber es war nicht im Interesse Miloševićs?

Kučan: Nein, und das war ein Grund, warum der Krieg so schnell zu Ende war.

STANDARD: Weil Milošević ihn nicht wollte?

Kučan: Sein Hauptinteresse galt den Serben. Es gab aufseiten der slowenischen Einheiten keinen Hass gegen die Armee, das war auch ein Grund, weshalb der Krieg so schnell zu Ende war. In der Armee waren vor allem junge Rekruten, und die haben nicht verstanden, weshalb sie gegen Slowenen kämpfen sollten. Deswegen sind viele desertiert. Anders war es in Kroatien und in Bosnien-Herzegowina, da gab es sehr viel Hass.

STANDARD: In Slowenien wird wieder viel über das Jahr 1991 diskutiert. Der konservative Politiker Janez Janša hat Ihnen vorgeworfen, Sie hätten damals nicht früh genug darüber informiert, dass Belgrad Waffen in Slowenien beschlagnahmen wollte. Weshalb gibt es bezüglich der Geschichte Sloweniens immer noch solche innenpolitischen Auseinandersetzungen?

Kučan: Sinnbildlich gesprochen: Der heilige Georg hat den Drachen besiegt. Je größer der Drache ist, desto größer ist auch der Held, der ihn besiegt hat. Das ist kein Konflikt zweier Seiten. Janez Janša hat nur ein Problem mit mir. Mein Bestreben war, dass Jugoslawien friedlich auseinandergeht und Slowenien auf einem friedlichen Weg eigenständig wird. So haben wir gedacht und gehandelt, und die Geschichte hat uns recht gegeben.

STANDARD: Es sind noch immer nicht alle Fragen bereinigt, wenn es um die Auflösung Jugoslawiens geht. Kroatien und Slowenien haben noch immer einen Grenzstreit, und viele Sparer warten nach wie vor auf die Sparguthaben in der Ljubljanska Banka. Wie sehen Sie das Erbe der Auflösung Jugoslawiens heute?

Kučan: Es handelt sich um normale Probleme und Streitereien. Auf beiden Seiten werden die Probleme aber als politische Probleme missverstanden, nicht als rechtliche oder wirtschaftliche Fragen. Und sobald man sich in diese politische Logik begibt, wird alles zum Problem und deshalb unlösbar. Es geht dann immer um die Frage: Wer gewinnt und wer verliert? Wenn es etwa um die Sparer der Ljubljanska Banka geht, dann muss das als wirtschaftliches Problem verstanden werden. Auch die Grenzfrage sollte unter dem rechtlichen Aspekt behandelt werden. Aber es wurde ein Prestigeproblem. Deswegen ist es auch von diesem politischen Feld auf das Schiedsgericht übertragen worden. Die kroatische Politik wollte dieses Schiedsgericht nicht. Die Vertreter Sloweniens haben einen Fehler gemacht, Slowenien hat das anerkannt und repariert. Abgehört haben aber die Kroaten (Kroatiens Geheimdienst soll Anfang 2015 Telefonate hochrangiger slowenischer Vertreter abgehört haben, Anm.). Wenn so etwas passiert, gibt es keine Vertrauensbasis mehr. Das Hauptprinzip in so einem Schiedsverfahren ist aber gerade das Vertrauen. Dieses Problem, das seit 25 Jahren Dauerthema ist, muss rechtlich gelöst werden. (Adelheid Wölfl, 25.6.2016)