Jörg Leichtfried befürchtet, dass es nun auch in anderen Staaten zu Austrittsdiskussionen kommen könnte.

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Wien – Der langjährige EU-Abgeordnete und jetzige Infrastrukturminister Jörg Leichtfried (SPÖ) erklärt, warum er die Briten trotz teilweise unterschiedlicher ideologischer Ausrichtung in der EU vermissen wird und warum die Union nicht in allen Lebensbereichen mitreden sollte.

STANDARD: Die Briten haben vieles in der EU blockiert. Ist es unter diesem Gesichtspunkt vielleicht gar nicht schlecht, wenn sie die EU verlassen?

Leichtfried: Ich würde das nicht so sehen. Die Union war in entscheidenden Situationen immer stärker als die Summe der einzelnen Mitgliedstaaten. Wenn ein Land dieser Größe die Union verlässt, schwächt das natürlich insgesamt. Diese Schwächung ist stärker zu bewerten als das Verhalten der Briten innerhalb der Union. Man übersieht auch gerne: Die Briten haben immer auch einen gesunden Pragmatismus eingebracht – unabhängig von ideologischen Ausrichtungen. Darum ist es schon schade.

STANDARD: Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker befürchtet weitere Austrittsdiskussionen in anderen EU-Ländern. Sie auch?

Leichtfried: Durchaus, es gibt ja schon einige Länder, in denen Stimmen laut werden – etwa in Dänemark oder Holland.

STANDARD: In Österreich trommelt die FPÖ die Öxit-Debatte zwar noch nicht offensiv, schließt sie aber für die Zukunft auch nicht aus.

Leichtfried: Es wird sicher populistisches Zündeln geben, aber für Österreich wäre ein Austritt wirtschaftspolitischer Selbstmord. Wir sind im Zentrum der Union, wir haben ein Ansteigen der Exportquote in den letzten zehn, 15 Jahre erlebt, das seinesgleichen sucht. Es hängen tausende Arbeitsplätze an der Exportindustrie. Die, die da zündeln, sollen sich genau überlegen, was sie damit anrichten können.

STANDARD: Was macht man, wenn die Kritik in der Bevölkerung zunimmt? Kann man dann weiter sagen, wir stimmen sicher nicht ab?

Leichtfried: Es geht darum, die EU-Politik so zu ändern, dass man dieser Kritik entsprechen kann. Die ist ja nicht unbegründet. Die EU in ihrer jetzigen Form mischt sich zu sehr in Kleinigkeiten ein. Das geht den Leuten auf die Nerven. Und das ist auch in Ordnung, mir geht das genauso auf die Nerven. Die EU hat sich um die großen Angelegenheiten zu kümmern. Um die Außenpolitik, um Kampf gegen Steueroasen, um Mindestsozialstandards. Und nicht darum, wie viel Salz am Salzstangerl drauf ist.

STANDARD: Die Frage, welche Kompetenzen die EU haben soll, diskutieren wir aber auch seit Jahren.

Leichtfried: Es ist gar nicht so sehr eine Frage der Kompetenzen, sondern des politischen Willens in Europa. Der wird aber natürlich von den Nationalstaaten vorbestimmt. Das unterschätzt man immer. Die Mitgliedstaaten bestimmen schließlich im Rat, was geschieht. Oft wird in Brüssel etwas entschieden, was dort gar nicht entschieden werden müsste, nur weil sich das irgendwer einbildet.

STANDARD: War es im Nachhinein gescheit, die EU so rasch auf 28 Mitglieder zu erweitern? Hat das nicht zum Pessimismus beigetragen?

Leichtfried: Der Eindruck drängt sich mir auch auf. Aber im Nachhinein ist man immer gescheiter, vor allem kann man auch nicht sagen, was passiert wäre, wenn es nicht so gekommen wäre. Der Fall des Eisernen Vorhangs war eine historische Chance – mit allen Risiken, die damit verbunden waren.

STANDARD: Auf dem heimischen Arbeitsmarkt hat die Osterweiterung sicher zu einem gewissen Druck geführt.

Leichtfried: Am meisten wird der heimische Arbeitsmarkt durch illegale Tätigkeiten belastet, durch die Nichteinhaltung von österreichischen Vorschriften und mangelnde Kooperation der Nachbarländer bei der Durchsetzung von Strafen.

STANDARD: Das wird einem heimischen Bauarbeiter aber egal sein, ob es nur daran scheitert, dass Strafen nicht vollzogen werden können. Er spürt einfach den Lohndruck.

Leichtfried: Darum müssen wir diese illegalen Aktivitäten mit aller Anstrengung beenden. Da müssen wir mehr tun.

STANDARD: Ist nicht das Flüchtlingsthema auch das beste Beispiel dafür, dass die Union nicht in der Lage ist, große Probleme zu lösen?

Leichtfried: Da zeigt sich die Blockadekapazität der Mitgliedstaaten der Union.

STANDARD: Also akzeptieren, dass hier nichts passiert?

Leichtfried: Man muss wissen, wieso das so ist. Die europäischen Institutionen im klassischen Sinn – die Kommission und das Parlament – hätten sich schon lange geeinigt. Aber einzelne Länder blockieren das.

STANDARD: Aber das zeigt ja nur, dass das System an sich nicht funktioniert.

Leichtfried: Das muss man aber den Mitgliedstaaten vorwerfen. (Günther Oswald, 27.6.2016)