Untersulzbachtal – Das Murmeltier wittert ihn zuerst. Ein Warnschrei hallt durch das Untersulzbachtal im Salzburger Pinzgau. Sekunden später segelt ein Bartgeier über die Bergspitzen des Nationalparks Hohe Tauern. Die Ornithologen zücken begeistert ihre Feldstecher und adjustieren die Fernrohre. Den Titel "Könige der Lüfte" haben die Greifvögel nicht zu Unrecht, sie erreichen eine Flügelspannweite von bis zu 2,85 Metern. Mithilfe von Thermik und Aufwinden in Bergregionen oberhalb der Baumgrenze können sie bei guten Bedingungen kilometerweit segeln, ohne ein einziges Mal mit den Flügeln zu schlagen.

Der Bartgeier ist in erster Linie in Gebirgsmassiven vor allem über der Baumgrenze zu finden.
Foto: iStockphoto/Pietro Annoni

Von dieser imposanten Erscheinung sind Lucky und Charlie noch weit entfernt. Die drei Monate alten Jungtiere sitzen zerrupft im Gras. Noch können sie nicht fliegen. Auch die charakteristische, gelblich-orange Färbung der helleren Federpartien an Hals und Brust durch Bäder in eisenoxidhaltigem Schlamm werden sie erst in einigen Jahren haben. An dem heißen Junitag haben sie bereits einen Transport aus dem Tierpark Friedrichsfelde Berlin und aus der Greifvogelstation im niederösterreichischen Haringsee hinter sich. Denn die männlichen und weiblichen Jungtiere werden im Untersulzbachtal ausgewildert.

Die Auswilderung markiert gleichzeitig ein Jubiläum: Vor dreißig Jahren wurden im nahen Rauriser Krumltal erstmals junge Bartgeier ausgewildert. Seither konnten alpenweit 222 Tiere freigelassen werden, davon 31 im Krumltal. Bis zu 250 dieser Geier leben nun wieder im Alpenraum. In diesem Jahr gibt es bereits 42 brütende Paare.

Mit Charlie und Lucky hat das Raurisertal im Nationalpark Hohe Tauern zwei neue Bartgeier. Das charakteristische Gefieder werden die Greifvögel erst in einigen Jahren entwickeln. Mit drei Monaten haben sie aber schon eine imposante Größe, die sie auch vor Feinden schützt.
Foto: Julia Schilly

Genetische Vielfalt fördern

Wie alle Bartgeier aus dem Wiederansiedelungsprogramm auch wurden sie in Volieren geboren. Eine frühe Auswilderung ist wichtig, mit vier Monaten werden sie bereits flügge. In den kommenden Wochen sitzen sie noch in ihrem Horst in schroffen Felswänden und können sich an die Umgebung gewöhnen. "In der Freiheit werden sie ununterbrochen gefordert und stumpfen nicht ab", erklärt der österreichische Greifvogelexperte Hans Frey.

"Trotz aller Anstrengungen und auch Erfolge ist es bis heute nicht gelungen, dass sich die Population so weit erholt hat, dass keine Neuansiedelungen mehr nötig sind", sagt Frey, der das Artenschutzprogramm mitinitiiert hat. Vor allem die genetische Vielfalt werde man erst in vielen Hundert Jahren wieder herstellen können, schätzt er. Frey betont, dass das Wiederansiedelungsprojekt nicht den Eindruck vermitteln soll, dass man "die Ausrottung eines Tieres einfach wieder reparieren kann".

Die Geschichte des Bartgeiers war von Missverständnissen und Unwissen geprägt. Zu Unrecht wurde ihnen der Riss von Gämsen und Lämmern und sogar Kindesraub vorgeworfen. 1906 wurde in Österreich der letzte Bartgeier in Freiheit erlegt. Ausgewachsene Bartgeier sind jedoch reine Aasfresser und ernähren sich von Knochen, die sie durch Abwurf auf Felsen zerkleinern. "Dabei handelt es sich um einen indirekten Werkzeuggebrauch", so Frey.

Vor der Freilassung werden Federn zur Wiedererkennung gebleicht.
Foto: Julia Schilly

Europaweites Zuchtnetz

Der Grundstein für die Wiederansiedelung des größten Greifvogels der Alpen liegt im Alpenzoo Innsbruck. Dort gelang es, die ersten Bartgeier mithilfe eines Ammenvogels in einer Voliere aufzuziehen. Bis 1986 dauerte der Aufbau eines Zuchtnetzes unter Beteiligung von rund 30 Tiergärten und der zentralen Richard-Faust-Bartgeier-Zuchtstation Haringsee unter der Leitung von Frey.

Für den Erfolg des Projekts ist ein Monitoring der freigelassenen Vögel wichtig. Auch Lucky und Charlie wird vor der Freilassung DNA entnommen, und einzelne Federn werden gebleicht. Dadurch können sie noch rund drei Jahre – bis zu ihrer ersten Mauserung – vom Boden aus identifiziert werden. Auch ein temporärer Satellitensender, der im Hüftbereich befestigt wird, und Beobachtungsmeldungen durch Laien sind grundlegend.

Gut zu sehen: Die Luftröhre. Das verhindert, dass die Bartgeier beim Runterwürgen größerer Knochen ersticken.
Foto: Julia Schilly

Die Chancen für die zwei Bartgeier stehen gut: Die Überlebensrate freigelassener Bartgeier liegt im ersten Lebensjahr bei 90 Prozent. Zum Verhängnis wird ihnen vor allem die Bleimunition im Aas. Schon geringe Mengen wirken tödlich. (Julia Schilly, 30.6.2016)