"Ich glaube, es wird ein guter Tag, denn ich habe das Gefühl, ich habe mein Leben im Griff" – so lautet der erste Satz in Stefanie Sargnagels Bachmannpreis-Text "Penne vom Kika".

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Sang der Jury "Das alte Lied von Senor Magma": Sascha Macht.

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Marko Dinic überzeugte die Jury mit Erinnerungen an das Nato-Bombardement von Belgrad 1999, das er als elfjähriger Schüler erlebte.

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Bringt die Rede auf alltägliche Beobachtungen in der U-Bahn, auf der Straße, auf Markt und Flohmarkt, in Bars und Tanzbars: Bastian Schneider.

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Beschloss mit dem Text "Ein geheimer Akkord" den ersten Lesetag: Selim Özdogan.

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Klagenfurt/Wien – "Ich glaube, es wird ein guter Tag, denn ich habe das Gefühl, ich habe mein Leben im Griff." Mit diesem Beginn des Textes "Penne vom Kika" der Wienerin Stefanie Sargnagel startete am Donnerstag das Wettlesen um den Bachmannpreis im ORF-Theater in Klagenfurt. Die einzige Österreicherin des Feldes hatte Startnummer eins gezogen. 2015 war die Siegerin Nora Gomringer mit Nummer zwei angetreten.

Sargnagel, die von Jurorin Sandra Kegel eingeladen wurde, war mit auf Facebook publizierten Kurztexten bekannt geworden. Ihr Bachmannpreis-Text umfasst elf A-4-Seiten und begleitet die Autorin ("Ich bin ja jetzt Autorin, und mit jedem Euro, den ich dadurch verdiene, wird mein inneres Poesievögelchen schwächer.") als Ich-Erzählerin durch einen Wintertag.

"Mir fällt nix ein"

Zuerst geht es alleine auf den Eislaufplatz, weil keiner der Freunde auf ihre SMS reagiert ("Aber das war okay, mit Menschen ist mir meistens ohnehin langweilig."), dann in "Bertis Beisl", wo Freundin Mercedes mit ihrem Liebeskummer auf Tröstungen wartet. Umgekehrt erkundigt sich Mercedes: "Hast du den Bachmanntext schon?" – "Nein, ich scheiß drauf, mir fällt nix ein."

Die Autorin schildert das Gasthaus als "Höhle von Ausgestoßenen" und resümiert schließlich: "Text geschrieben, Eislaufen gewesen, Liebeskummer angehört, eine Vergewaltigte, ein Totschläger, ein Bewusstloser in einer Blutlache. Kein fader Tag, finde ich und bestelle mein nächstes Bier." Die titelgebenden "Penne vom Kika" gibt es später auch noch, um 3 Euro im fast leeren Möbelhaus-Restaurant. "Sie schmecken nach gar nichts, genau wie ich es mag."

"Da kann Faust einpacken"

"Das war eine schöne Eröffnung, etwas heftig für 10 Uhr morgens", befand der Juryvorsitzende Hubert Winkels, der in dem Text eine Gralssuche ortete – "nicht ganz neu, aber gut gemacht". Der Text verhandle "einen Wechsel zwischen Kreation und Depression", meinte Sandra Kegel und verstieg sich später zu "Da kann Faust einpacken". Das sei doch arg übertrieben, fand Meike Feßmann, die einen "recht gefälligen, gewöhnlichen und auch extrem banalen Text" ortete, der einen "Quasselmodus" bediene, kein Widerstandspotenzial entfalte und eine zweite Lektüre nicht aushalte.

Während Hildegard E. Keller vor allem der Ich-Bezug von Anfang und Ende gefiel, meinte Klaus Kastberger, zweimal von Sargnagel mit kurzen Erklärungen unterbrochen: "Der Text ist einfach gut. Der Text ist klüger und tiefsinniger, als er tut." Um zu funktionieren, müsse er bewusst Traditionen und Querverbindungen unterlaufen. STANDARD-Literaturredakteur Stefan Gmünder zeigte sich mit dem Text "viel zufriedener, als ich gedacht hätte", hielt ihn aber formal für limitiert. "Allzu hoch hängen möchte ich ihn aber nicht." Juri Steiner erkannte großes Talent.

Universität in der Dschungelstadt

Als Nummer zwei des Wettlesens um den Ingeborg-Bachmann-Preis las am Donnerstagvormittag der in Leipzig lebende Deutsche Sascha Macht, dessen erster Roman "Der Krieg im Garten des Königs der Toten" im Frühjahr erschienen war. Sein Text "Das alte Lied von Senor Magma" spielt im Universitätsmilieu einer von Dschungel umgebenen Stadt.

Ich-Erzähler ist ein offenbar aus politischen Gründen von der Uni entlassener Literaturhistoriker, der "zu anarchistischen Strömungen in der Literatur des vom Bürgerkrieg zerrissenen Spanien" forscht und albtraumartige Visionen der Zukunft hat. Ein Militärhistoriker, der gerade eine Gastvorlesung hält, spricht von den Schlachtfeldern des späten 21. Jahrhunderts, die den menschlichen Verstand als letzten Raum definierten, "dessen vollständige Eroberung sich dann noch lohnen werde". Aber auch die politische Gegenwart scheint instabil, Studentenproteste werden von berittener Polizei niedergeschlagen, aus dem Dschungel feuert jeden Morgen ein desertierter Konteradmiral eine Raketensalve auf die Stadt.

"In jeder Ritze das Katastrophische"

Die Jury konnte sich mehrheitlich nicht begeistern. Meike Feßmann ortete "sprachliche Indifferenz", Klaus Kastberger "Campus-Prosa" mit einem "Zuviel an Bedeutungsschwere", Sandra Kegel einen "seltsamen Konservativismus", während der Text "in jeder Ritze das Katastrophische, das Apokalyptische" atme. Hubert Winkels fand eine "vollkommene Überdetermination durch Katastrophenszenarien".

Ähnlich Juri Steiner: "Viel zu viel, viel zu groß!" Stefan Gmünder dagegen hat "den Text durchaus mit Gewinn gelesen", Hildegard Keller, die Sascha Macht eingeladen hatte, ortete "sehr präzise Sprache", mit der "eine Welt erschaffen" werde.

Ein Sohn rechnet mit seinem Vater ab

Marko Dinic, ein in Salzburg lebender gebürtiger Wiener mit serbischem Pass, beendete die erste Vormittagssession mit einem "Als nach Milošević das Wasser kam" betitelten Auszug aus einem Roman. Es ist die Erinnerung eines Maturanten an das Nato-Bombardement von Belgrad 1999, als der Ich-Erzähler ein elfjähriger Schüler war, der Milošević liebte, "weil mein Vater, der Trottel, ihn auch liebte". Der Text ist auch eine – von Dinic mit viel Emotion vorgetragene und mit serbischen Songeinlagen garnierte – bittere Abrechnung des Sohnes mit seinem Vater, der dem damaligen Regime als Beamter diente und der guten, alten Zeit nachtrauert.

Szenen von damals, als der Ausnahmezustand auch die Schließung der Schulen bedeutete, mischen sich mit der Gegenwart und allgemeinen Betrachtungen wie: "In der Liebe zum Sport zeigt sich, wer am Ende des Tages ein wahrer Serbe ist." Die bevorstehenden Prüfungen sind auch eine Weichenstellung: "Wenn das mit der Aufnahmeprüfung klappt, bin ich hoffentlich bald weg. In Deutschland oder Österreich würde mich sicher eine Universität aufnehmen. Schließlich war ich in Deutsch immer gut."

Das fand auch die Jury, nicht nur Klaus Kastberger, der Dinic eingeladen hatte. Als "unglaublich klar und sehr profiliert" lobte Hubert Winkels den Text. Die "Beschränkung der Erzählperspektive" sei eine Qualität des Textes, meinte Meike Feßmann, die sich "sehr überzeugt" zeigte. Stefan Gmünder war "sehr beeindruckt, wie mit historischen Themen umgegangen wird", Sandra Kegel fand "eindringliche Bilder": "Gehen und Erinnerung werden eng geführt." Auch Juri Steiner gefiel der Text, fand es allerdings ebenso wie Hildegard E. Keller – die auch falsches Pathos ortete – schade, dass der Erzähler am Ende den Bus verpasst.

Vom "Pizzastück" übers "Mundstück" zum "Bruchstück"

Den ersten Nachmittag im Rahmen der 40. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt begann der kürzlich von Wien nach Köln gezogene Deutsche Bastian Schneider mit einer "MEZZANIN: Stücke" betitelten Sammlung von Prosa-Miniaturen.

Von "Halbstück" über "Pizzastück" und "Mundstück" bis zu "Bruchstück" ("Ich spreche gebrochen und breche gesprochen entzwei.") und "Schlußstück" reichen Bastian Schneiders 29 mitunter nur einen Satz langen Kurztexte, die in der Form sein im Frühjahr erschienenes Prosadebüt "Vom Winterschlaf der Zugvögel" fortführen. Die Rede kommt dabei auf Schuhe und Handschuhe, auf alltägliche Beobachtungen in der U-Bahn, auf der Straße, auf Markt und Flohmarkt, in Bars und Tanzbars.

Lob der Schnörkellosigkeit und Kühle

Schneider musste für seine "literarischen Stillleben" (Sandra Kegel) teilweise arge Kritik einstecken. "Entweder Sie können es, oder Sie müssen es lassen", urteilte Meike Feßmann über diesen für sie gescheiterten Versuch an einer "extrem schwierigen Prosaform". Klaus Kastberger vermisste ein "Lehrstück: Übung macht den Meister" und den Zusammenhang, lobte aber Schnörkellosigkeit und Kühle.

Hubert Winkels sah ebenso wie Hildegard Keller in der Uneinheitlichkeit der Texte ein Problem, während Stefan Gmünder, der Bastian Schneider eingeladen hatte, "durchaus eine Stimmigkeit" wahrgenommen hatte. Auch Juri Steiner zeigte sich zurückhaltend und fand sich eher auf der Verteidiger-Seite.

Ein Hase entzweit die Jury

Der Kölner Selim Özdogan, von den Organisatoren als Türke geführt, dessen bisher letztes Buch "Wieso Heimat, ich wohne zur Miete" im österreichischen Haymon Verlag erschienen ist, beschloss mit "Ein geheimer Akkord" den ersten Lesetag. In seinem in der Zukunft spielenden Text erzählt er von einem eingebildeten Hasen ("Kopfkino"), der dem Ich-Erzähler, dem Sohn eines im Alter von 28 Jahren gestorbenen erfolgreichen deutschen Autors, zwölf Jahre lang erschienen war. Ein indischer Germanistikstudent hilft dem Erzähler die mit einem Passwort geschützte, vom Vater hinterlassene Festplatte zu knacken. Allmählich wird klar, dass der Vater ein Betrüger war, der seine erfolgreichen Romane aus ihm zugelieferten Rohfassungen geschrieben hatte. Der Hase des Sohnes verschwindet. "Und jetzt sehe ich die Hasen der anderen."

Özdogans Hase entzweite die Jury. Während sich Hildegard Keller für "ein starkes Stück, ein tollkühnes Stück, ein Zauberstück" begeisterte und in Stefan Gmünder, der Özdogan eingeladen hatte, Hubert Winkels und Juri Steiner Mitstreiter fand, ließen sich Sandra Kegel ("lässt mich seltsam kalt"), Klaus Kastberger ("Ich zweifle an der Zauberkraft dieses Hasen.") und Meike Feßmann ("miserabel konstruiert") keinen Hasen aufbinden – sie äußerten sich deutlich kritischer.

Am Freitag lesen Julia Wolf, Jan Snela, Isabelle Lehn (vormittags) und der Israeli Tomer Gardi sowie Sylvie Schenk (nachmittags). Den Abschluss machen am Samstag Ada Dorian, die in London geborene Sharon Dodua Otoo, Astrid Sozio sowie als Letzter der Schweizer Dieter Zwicky. Der Bachmann-Preis und die anderen Preise werden am Sonntag vergeben. (APA, 30.6.2016)