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Boris Johnson verzichtete auf die Kandidatur zum Tory-Parteichef und britischen Premier.

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Justizminister Michael Gove hatte seinen Verzicht angekündigt, tritt aber an.

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Die britische Politik hat in den vergangenen Tagen viele Überraschungen geliefert. Doch was an diesem Donnerstag kurz vor Mittag geschieht, verschlägt selbst hartgesottenen Veteranen den Atem. Im dunklen Anzug hat Boris Johnson vom Brexit geschwärmt, Manager getadelt und seine Amtszeit als Londoner Bürgermeister gelobt. Jetzt kommt der Moment, in dem er seine Kandidatur für das Amt des konservativen Parteichefs und damit des Premiers bekanntgibt. Jedenfalls glauben das alle Zuhörer. Stattdessen beschreibt Johnson die Qualitäten, die David Camerons Nachfolger braucht, und sagt dann: "Ich bin nicht diese Person." Ungläubiges Schweigen im Saal.

Kurz darauf schlägt Big Ben zwölf Uhr, im Parlament tritt Graham Brady vor die Kameras. Der Tory-Abgeordnete sitzt dem 1922-Komitee vor und ist damit so etwas wie der Gewerkschaftssekretär der konservativen Fraktion. Brady trägt die Liste jener Fraktionskollegen vor, die bis zwölf Uhr ihre Kandidatur angekündigt haben. Johnsons Name steht nicht darauf. Es ist ein Quintett. Neben dem jungen Sozialminister Stephen Crabb, dem Parteirechten Liam Fox und der vergleichsweise unbekannten Energiestaatssekretärin Andrea Leadsom gehören dazu die zwei Favoriten: Innenministerin Theresa May und Justizminister Michael Gove.

Ein Doppelpack schlägt sich

Dabei hatte Gove noch kürzlich betont, er wolle gar nicht Premier werden. Der 48-jährige frühere Journalist galt als intellektuelles Schwergewicht, als führender Kopf der Brexit-Kampagne, als Anker neben Kommunikator Johnson.

Die beiden sind häufig im Doppelpack aufgetreten. Im politischen London glaubte man, sie würden auch gemeinsam in die Nachfolgeschlacht ziehen. Und stets lag dabei die Annahme zugrunde, Johnson werde als Premier antreten, Gove ein Schlüsselressort übernehmen, etwa das Schatzkanzleramt.

Doch im Lauf der Brexit-Kampagne sind Zweifel an Johnsons Urteilsvermögen entstanden. Er machte den Eindruck, das Votum für den EU-Austritt habe ihn unvorbereitet getroffen. Die Zweifel erreichten auch Gove: Johnson, teilt der Justizminister Freitag kühl mit, fehle die Führungsfähigkeit. "Daher habe ich mich zur Kandidatur entschlossen."

In seiner nüchternen Mitteilung zur Mittagsstunde beschreibt Chef-Hinterbänkler Brady das weitere Vorgehen. Da sich mehr als zwei Kandidaten für den Job interessieren, müssen die 331 gewählten Tory-Abgeordneten eine Vorauswahl treffen, ehe die beiden Bewerber mit der höchsten Stimmenzahl in die Urwahl durch die Parteimitglieder gehen.

Das Parteivolk entscheidet

Über die Parteimitglieder weiß man, dass sie meist weiß sind, in Südengland wohnen, ihr Durchschnittsalter an der Pensionsgrenze liegt – mit Sicherheit keine repräsentative Gruppe. Dass sie statt des Volkes den Premier bestimmen, ist eine Premiere. Bei bisherigen Rücktritten von Regierungschefs entschieden die Abgeordneten. Durch Parteivoten wurden nur Oppositionschefs gewählt.

Am 9. September soll das Ergebnis vorliegen. Dann dürfte Gove in die Downing Street einziehen – oder eben doch die Favoritin der Buchmacher, Theresa May. Im Streit um die EU-Mitgliedschaft blieb die Innenministerin loyal zum Premier, hielt sich aber zurück. An ihrer EU-Skepsis gibt es keine Zweifel. Doch schien es in den letzten Tagen Konsens zu geben: Wer Cameron beerben wolle, müsse ein EU-Feind sein. Weil May dieses Manko kennt, hat sie den EU-feindlichen Chris Grayling zum Leiter ihres Wahlkampfteams berufen. In ihrer Bewerbungsrede gab sie sich hart: "Brexit bedeutet Brexit." Einem zweiten Referendum erteilt sie ebenso eine Absage wie Neuwahlen im Herbst. Aus ihrer Sicht solle Artikel 50 "nicht vor Ende des Jahres" in Kraft treten – die Verhandlungszeit, die den Austritt aus der EU regelt, wäre also frühestens 2018 zu Ende. (3Sebastian Borger aus London, 30.6.2016)