Die Ägäis liegt wie ein Spiegel unter der Morgensonne. Drüben, auf der türkischen Seite der Meerenge von Lesbos, schiebt ein Militärschiff eine Bugwelle vor sich her. Die Nato patrouilliert an den Rändern Europas. Griechenland und die Türkei sind sich hier so nahe, dass man meint, hinüberschwimmen zu können. Vor gut einem Jahr ist die Insel zum Synonym für das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer geworden, vor gut einem Monat hat dort wieder die Urlaubssaison begonnen.

Wem auch immer man von einer Reise dorthin erzählt, der schaut einen verständnislos an: Lesbos? Auf keinen Fall würde man dort Urlaub machen. Zu präsent sind die Bilder von verzweifelten Menschen, die aus den Fluten gerettet werden, von Bergen oranger Schwimmwesten und chaotischen Zeltsiedlungen. Und irgendwie sei es doch unmoralisch, all das auszublenden.

Tourismus auf Lesbos

An diesem lauen Sommertag stehen nur ein paar Norweger, Deutsche und Engländer am Frühstücksbüffet. Hotelbesitzer Iannis Troumpounis sitzt mit seinem Kaffee unter einem Olivenbaum am Strand. "Wir haben Glück, dass wir überhaupt Gäste haben, die Buchungen für den Sommer liegen 60 Prozent hinter letztem Jahr", sagt er. "Viele Gäste kommen nicht, weil sie sich im Urlaub nicht schuldig fühlen möchten, wenn um sie herum Menschen leiden. Aber ich sage ihnen, dass auf Lesbos alles wieder in geregelten Bahnen verläuft – und es hier eben genauso Flüchtlinge gibt, wie bei ihnen zu Hause."

Auf dem Weg vom Flughafen zum Hotel kann man sie sehen: junge Männer, manchmal auch Frauen und Kinder, die in Gruppen neben der Straße gehen. Die meisten kommen aus dem Abschiebelager Moria, das nördlich von Mytilíni in den Bergen liegt, in einem Dorf, das bei Urlaubern früher vor allem für sein römisches Aquädukt bekannt war.

Das Mahnmal "Mutter Kleinasiens" in Mytilíni erinnert an die Flüchtlinge nach dem Griechisch-Türkischen Krieg (1919–1922). Urlauber meiden die Insel Lesbos wegen der aktuellen Flüchtlingskrise.
Foto: Mirco Lomoth

Warten und Sightseeing

Die Flüchtlinge warten darauf, dass ihre Asylanträge bearbeitet werden, nach 25 Tagen Haft dürfen sie sich mit Passierschein tagsüber frei auf der Insel bewegen. Sie gehen am Meer spazieren, schauen sich die Altstadt von Mytilíni an oder das alte Kastell, das zwischen Pinien liegt. Laut UN-Flüchtlingshilfswerk sind im Moment noch knapp 4300 Flüchtlinge auf der Insel registriert, Neuankömmlinge gibt es seit dem Abkommen der EU mit der Türkei vom 20. März kaum noch.

Für die Einheimischen kehrt jetzt so etwas wie Normalität ein. Doch die Touristen bleiben fern. Zwei Drittel weniger Charterflüge als im Frühjahr 2015 fliegen die Insel derzeit an. Nur für die Hotels in der Hauptstadt Mytilíni, die schon im Winter mit Journalisten, Freiwilligen und Sicherheitskräften belegt waren, laufen die Geschäfte nach wie vor gut. Für den Rest der Insel liegen die Buchungen laut Hoteliervereinigung 90 Prozent hinter denen im Vorjahr, manche Häuser werden dieses Jahr ganz geschlossen bleiben. In den sonst so beliebten Restaurants der touristischen Orte Mólivos, Plomári und Pétra sieht man fast nur leere Tische.

Die Burg von Molyvos ragt hoch über den Dächern des Dorfes.
Foto: Getty Images/iStockphoto/TonyTaylorStock

Iannis Troumpounis begleitet eine Gruppe Touristen nach Mytilíni. Sie halten am alten Handelshafen. Gegenüber von einer kleinen Kapelle, die dem Apostel Paulus geweiht ist, steht die Statue einer Mutter mit drei Kindern mit dem Rücken zum Meer. Die "Mutter Kleinasiens" ist ein Mahnmal für die griechischen Flüchtlinge, die 1922 nach dem Griechisch-Türkischen Krieg vom Festland nach Lesbos flüchteten. Insgesamt musste mehr als eine Million orthodoxe Griechen Kleinasien verlassen, im Gegenzug verließ eine halbe Million Moslems Griechenland. Viele Einwohner von Lesbos stammen von den "Micrasiates" ab, den anatolischen Griechen.

Griechischer Koch in Izmir

"Auch mein Großvater kam damals ohne Schuhe hier an, er war vorher Koch in Izmir, das eine sehr griechische Stadt war", erzählt Troumpounis. Eine alte Frau mit weißem Sonnenhut berührt im Vorbeigehen die Füße der Statue. Sie ist 76, ihre Schwiegermutter kam damals mit ihren Kindern nach Lesbos. "Sie sind vor einem schlimmen Krieg geflohen und mussten alles zurücklassen, daran muss ich oft denken, wenn ich heute die syrischen Flüchtlinge sehe", sagt sie.

In der engen Basargasse von Epáno Skála, dem Viertel der "Micrasiates", hat jemand "Refugees welcome" an die Mauer einer ehemaligen Moschee gesprayt, von deren Minarett nur noch ein Stumpf übrig ist. "Drüben in der Türkei liegen die christlichen Kirchen in Ruinen, hier bei uns sind es die Moscheen, aber vielleicht werden wir sie in Zukunft wieder brauchen", sagt Troumpounis.

An der Mole der Altstadt, die sich um eine tiefblaue Bucht spannt, liegen beschlagnahmte Schiffe der Schlepper. Rostige Fähren, ein Kutter, an dem ein blaues Nazar-Amulett gegen den Bösen Blick angebracht ist, und zwei umgebaute Katamarane mit militärisch-grauem Aufbau. Drinnen liegen Schwimmwesten auf dem Boden verstreut, Zahnpastatuben, leere Wasserflaschen.

Wilde Olivenbüsche

Mit einem Bus geht es am Nachmittag in den Norden der Insel, zu dem kleinen Küstendorf Skála Sikaminéas. Der Weg verläuft parallel zum Meer durch wilde Olivenbüsche. Troumpounis erzählt von den elf Millionen Olivenbäumen auf der Insel und der Qualität des Öls, das schon der ottomanische Sultan schätzte.

Er zeigt auf die türkische Küste, die hier nur etwa acht Kilometer entfernt ist. "Dort drüben liegt das antike Assos, das von Lesbos aus gegründet wurde, die Menschen sind hier immer zwischen Festland und Insel gependelt", erzählt Troumpounis. "Aber letztes Jahr kam zeitweise alle zehn Minuten ein Boot an, die Strände waren übersäht mit Schwimmwesten."

In Skála Sikaminéas erinnert nur noch ein oranges Rettungsboot an die Tragödien der letzten Monate. Am Hafenbecken sitzen griechische Familien beim Mittagessen, alte Männer sortieren geduldig Fischernetze vor ihren blauweißen Holzbooten. Auf einem Felsen über dem Meer steht eine kleine weiße Kapelle, die einer Meerjungfrau mit Mariengesicht geweiht ist.

Fast alles wie früher

Davor sitzt eine deutsche Urlauberin und schaut aufs Meer. "Im Herbst haben wir eine Bootsfahrt hierher gemacht und unterwegs eine Schwimmweste im Wasser treiben sehen – ein schlimmes Gefühl", sagt sie. "Zuhause hat mich jeder für verrückt erklärt, dass ich hier Urlaub mache, aber ich will die Einheimischen unterstützen. Es freut mich zu sehen, dass wieder fast alles so ist, wie früher."

Tintenfisch-Tentakel trocknen in der Sonne am Strand von Lesbos.
Foto: Getty Images/iStockphoto/CreativeNature_nl

Wo Tintenfische zum Trocknen auf einer Schnur hängen, steht Vangellis Stylianou vor seiner Taverne. "Freiwillige haben uns in den letzten Wochen geholfen die Strände aufzuräumen, auch unter Wasser liegen jetzt keine Reste von Schlauchbooten und Außenbordmotoren mehr", sagt er. "Ich kann nicht verstehen, warum jetzt keine Touristen herkommen, wo alles vorbei ist; schau dich doch um, wovor haben sie denn Angst?"

Wie viele hier ist Stylianou wütend, auf die Regierung, die sie in den ersten Monaten mit den Flüchtlingen allein gelassen hat, auf die Reiseveranstalter, die jetzt ihre Lesbos-Reisen absagen, auf die Fluggesellschaften, die Flüge streichen. "Wir haben hier auf Lesbos Hunderttausenden geholfen und jetzt denken die Leute, dass wir eine schmutzige Insel sind, das ist nicht fair." (Mirco Lomoth, 13.7.2016)