Der Film "It's Not the Time of My Life" von Szaboics Hajdu: Die Idylle mit den lieben Verwandten trügt, aus einer Feier wird Zwist, aus unverfänglichem Smalltalk entwickeln sich verdeckte Anschuldigungen, aus verdeckten Anschuldigungen handfester Streit.

Foto: Karlovy Vary

In Schottland sei nur einer von zehn Menschen ein "Arschloch", so Ernella und ihr Mann Albert. In ihrem Heimatland Ungarn sei das Verhältnis dagegen umgekehrt. Das Paar schwärmt von seiner Zeit in Großbritannien. Doch ganz so wunderbar kann es für sie dort nicht gewesen sein: Nachdem sie es nicht geschafft haben, dort eine Existenz für sich und ihre Tochter aufzubauen, sind sie in ihr Heimatland zurückgekehrt. Unterschlupf finden sie erst einmal bei Ernellas Schwester und deren Mann. Die Abwertung Ungarns spiegelt Ernellas und Alberts Selbsthass, sie sind auf die Unterstützung der wohlhabenderen Verwandten angewiesen.

Szaboics Hajdus nur in einem verwinkelten Apartment gedrehter Ernelláék Farkaséknál (It's Not the Time of My Life) war der verdiente Sieger des Filmfestivals von Karlovy Vary – und einer von mehreren Wettbewerbsfilmen aus Ost- und Südosteuropa, die Arbeitsmigration gen Westen thematisierten. Mit Gespür für allzu menschliche Unzulänglichkeiten lässt Hajdu, der auch das Drehbuch geschrieben hat, die Stimmung in der Wohnung kippen: Aus Smalltalk entwickeln sich Anschuldigungen, aus verdeckten Anschuldigungen handfester Streit. Die Frontlinien bleiben dabei nie geschlossen: Koalitionen oder Brüche konfigurieren sich immer wieder neu anhand von Familienbande, Geschlechtergrenzen, Generationenunterschieden oder ökonomischem Status.

Die neue Welle

In seiner konzentrierten Erzählweise erinnert der Film an die rumänische neue Welle, die seit etwa einem Jahrzehnt international für Furore sorgt. Die formale Meisterschaft und Stringenz, die etwa die Filme von Christi Puiu oder Christian Mingiu auszeichnet, erreicht der Ungar dabei aber nicht. Das gilt auch für den rumänischen Beitrag Dincolo de calea ferata (By the Rails) von Catalin Mitulescu, der von der Jury lobend erwähnt wurde. Der Film erzählt auch die Geschichte eines Heimkehrers, eines rumänischen Arbeitsmigranten, der aus Italien zurückkehrt und vor den Trümmern seiner Beziehung steht. So gut Mitulescu zu Beginn Spannung mit wenigen Mitteln aufbaut, in der zweiten Hälfte des Films verfällt er auf ein Klischee des südosteuropäischen Kinos: eine aus dem Ruder laufende Hochzeitsfeier.

Der Spezialpreis der Jury ging an den russischen Film Zoology von Ivan I. Tverdovskiy, eine surreale Parabel über Ausgrenzung und Konformitätsdruck anhand einer Zooangestellten, der eines Tages ein Schwanz wächst. Seinem Ruf als Festival für Entdeckungen aus dem osteuropäischen Raum konnte Karlovy Vary dieses Jahr in der Sektion East of the West gerecht werden.

Der Spezialpreis der Jury ging hier an die Estin Triin Ruumet für ihren Debütfilm Päevad, mis ajasid segadusse (The Days that Confused), der in ihrem Heimatland bereits zu einem Hit wurde. Verständlich: Mit Energie und Empathie erzählt die 28-Jährige vom Ende der Jugend ihres Protagonisten in der estnischen Provinz der späten 1990er. Ein sympathischer Film, der es schafft, osteuropäischer Tristesse eine gewisse White-Trash-Coolness zu verleihen, die man aus US-Indiefilmen kennt. Der Hauptpreis in dieser Sektion ging ebenfalls an einen Debütfilm, jenen einer georgischen Regisseurin – der allerdings kaum unterschiedlicher sein könnte als der Film der Estin. Rusudan Glurjidzes Skhvisi sakhli (House of Others) war die Festivalüberraschung: ein atemberaubend reifes Werk, das in seiner formalen Virtuosität Vergleiche mit Andrei Tarkowski herausfordert.

Bald in Berlin

Der Film spielt in der georgischen Provinz Abchasien zur Zeit des Sezessionskrieges zu Beginn der 1990er. Eine Familie zieht in ein Haus, das offensichtlich kurz zuvor noch von Kriegsgegnern bewohnt wurde. Die Zusammenhänge bleiben unklar. Glurjidze geht es mehr um eine Meditation über die Geister der Vergangenheit, die Unmöglichkeit eines Neuanfangs und die psychologischen Folgen eines Krieges auch jenseits des Schlachtfelds. Ihr nächster Film wird, die Prognose drängt sich auf, den Sprung nach Berlin, Venedig oder Cannes schaffen. (Sven von Reden, 10.7.2016)