Ein Diplomat ist ein "ehrlicher Gentleman, den man ins Ausland schickt, damit er zum Wohl seines Landes lügt". Sollte das zynische Bonmot von Henry Wotton (1568- 1639) noch heute Gültigkeit besitzen, stellt Boris Johnson als Chefdiplomat Großbritanniens in mehrfacher Hinsicht eine Fehlbesetzung dar. Lebensfroh und liberal ist der neue Außenminister, Ehrlichkeit halten nicht einmal Freunde für eine seiner Charaktereigenschaften, vom Gentleman kann keine Rede sein. In der Brexit-Debatte hat er nicht das Ausland, sondern seine Mitbürger systematisch belogen.

Auch wer Diplomaten positiver beurteilt und gute persönliche Beziehungen, Zurückhaltung sowie Augenmaß für deren wichtigste Attribute hält, kann über Johnsons Berufung nur den Kopf schütteln. Der Mann hat reihenweise ausländische Staatsfrauen und -männer beleidigt, den türkischen Staatschef Tayyip Erdogan als "Wichser" und die US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton als "sadistische Krankenschwester in einer Nervenklinik" bezeichnet.

Er muss mit engen Verbündeten wie Deutschland und Frankreich zusammenarbeiten, deren Außenminister ihn erstaunlich undiplomatisch als "Lügner" (Jean-Marc Ayrault) und "unverantwortlich" (Frank-Walter Steinmeier) einschätzen. Allerdings sollten die Kollegen den Politiker Johnson nicht unterschätzen, allen diplomatischen Fauxpas zum Trotz.

Dass sie Johnson ins Foreign Office schickt, verrät Theresa Mays Konzentration auf die Innenpolitik. Dort kann sie den schärfsten Rivalen nicht gebrauchen. Stattdessen drückt sie ihm den Besen in die Hand: Johnson soll die Brexit-Scherben zusammenkehren. Ihm zur Seite stehen zwei außenpolitisch erfahrene Putzhilfen. David Davis war schon vor 20 Jahren Europa-Staatssekretär, Liam Fox diente als Verteidigungsminister. Nun wird Davis als "Minister für den Austritt aus der EU" die Verhandlungen mit Berlin, Paris und Brüssel führen. Fox soll umsetzen, wovon die EU-Feinde während des Referendumkampfes gern schwärmten: stärkeren Handel mit der Welt außerhalb Europas, insbesondere den rasch wachsenden Volkswirtschaften Asiens.

Die neue Premierministerin gehörte, wenn auch höchst zurückhaltend, zu den Befürwortern der britischen EU-Mitgliedschaft. Wie die Insel aus dem Brüsseler Club kommt, wird ihre Amtszeit definieren. Ihr Auftrag an die Brexit-Hydra Davis, Fox und Johnson lautet: Ihr habt uns die Suppe eingebrockt, nun löffelt sie auch aus. Gelingt die komplette Umstellung britischer Außenpolitik, heimst May Lob für ihre kluge Personalpolitik ein. Geht alles schief, stehen die EU-Feinde diskreditiert da – und die Premierministerin gewinnt Handlungsfreiheit für einen eigenen Deal.

Das Brexit-Dreigestirn – lauter selbstbewusste Egos – muss sich nun zusammenraufen und einen einigermaßen kohärenten Plan ausarbeiten. Den gibt es bisher nicht, was kein gutes Licht auf das Selbstbewusstsein der angeblich so glänzenden Spitzenbeamten in London wirft.

Jetzt müssen Hals über Kopf Handelsspezialisten und Juristen angeheuert, müssen die Vorteile des Binnenmarkts gegen den Nachteil als zu hoch empfundener Einwanderung abgewogen werden. Großbritannien ist zu wünschen, dass nach Monaten lügenhafter Auseinandersetzung und schlimmen Chaoswochen in der Regierung ein wenig Ruhe und Gelassenheit einkehrt. (Sebastian Borger, 15.7.2016)