Blumenmeer für die Opfer des Attentats von Nizza.

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An jenem Ort, wo der Täter erschossen wurde, platzierten Passanten einen Müllhaufen. Weitere spuckten auf die Stelle.

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Schweigeminute in Nizza. Kurz danach wurde Premier Manuel Valls ausgebuht – ihm werfen viele ungenügende Sicherheitsmaßnahmen vor.

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Die Engelsbucht glitzert wunderschön im Vollmond. Doch der Zauber der "Baie des Anges" will an diesem Abend nicht wirken. Es ist kurz vor 23 Uhr – der Zeitpunkt des Massakers wenige Tage zuvor. Auf einer Promenadebank sitzt ein älterer Mann mit Tränen in den Augen. Nein, er habe keine Angehörigen verloren, erklärt er. "Aber ich halte es abends trotzdem nicht mehr allein aus, in meinen vier Wänden. Hier gibt es wenigstens andere Menschen."

Stimmt, bei der Prunkfassade des Hotel Negresco steht eine Gruppe um ein kleines Kerzenbündel mit einer US-Flagge. Die fünf Amerikaner haben einander die Arme um die Schultern gelegt und bilden einen engen Kreis. Ihr Schluchzen will nicht versiegen.

Oasen auf der Straße für die Opfer

Die spärlichen Spaziergänger passieren schweigsam zwischen den Kerzenhäufchen. Wenn sie deren Position verfolgen, spult sich in ihnen wohl der Film der Ereignisse ab. Vor dem Negresco verläuft die Flammenspur auf dem Trottoir, bei der Westminster-Bar wechselt sie auf die Straße – wie der 19-Tonner am Nationalfeiertag des 14. Juli. Jetzt, in der Nacht, zeigen die kleinen Flämmchen, wo die Todesopfer zurückblieben – deren sind es 84.

Bei einigen der Kerzeninseln liegen Plüschbärchen und Kinderspielzeuge. Eine dieser still leuchtenden Oasen gehört Kylian, einem vierjährigen Buben, der von dem Laster überrollt wurde. Sein Vater suchte ihn anderthalb Tage lang wie von Sinnen, sogar mit Aufrufen via Facebook, bis er vom Tod seines Sohnes erfuhr.

Zehn Nationalitäten

In den nächsten Tagen soll die sterbliche Hülle nach Tunesien überführt werden, das Herkunftsland der Familie – und jenes des Attentäters Mohamed Lahouaiej-Bouhlel. Auch sonst sind viele Muslime unter den Opfern: hier eine Fatima, dort ein Mehdi, ein Mohamed, ein Bilal, eine Zahia. Zehn Nationalitäten sind es, noch mehr Kinder.

Am Montagmorgen erstrahlt die "Prom" im mediterranen Licht. Ein Tag mehr seit dem Drama. "Meine Stadt weint, aber sie hat keine Angst", hat jemand mit frischer Kreide auf den Asphalt geschrieben. Eine unübersehbare Menschenmenge strebt an den erloschenen Kerzenoasen vorbei zum Palais de la Méditerranée, wo die Amokfahrt ihr Ende gefunden hatte. Viele sind in Ferienshorts, nur eine Gruppe trägt Schwarz.

Direkt vor dem Eingang des Casinos liegen besonders viele Kerzen. "Hier war ein kleines Konzert im Gang ...", sagt Maria. Sie kommt von den Antillen und wohnt gleich um die Ecke. Jeden Morgen geht sie auf der "Prom" joggen.

Fragen an die Polizei

Jetzt stockt ihr die Stimme, eine Träne fließt unter der Ray-Ban-Brille hervor. Ihr Sohn Nesly übernimmt energisch: "Ich frage mich die ganze Zeit, wie es sein kann, dass die Polizei den Lastwagen auf dem ersten Kilometer nicht zu stoppen vermochte", meint er, die Stimme voller Wut. "Frankreich ist doch im Ausnahmezustand!"

Dann erschallt ein Böllerschuss – das Signal für die Schweigeminute zur Staatstrauer, die sich an diesem Montag ihrem Höhepunkt nähert. Die anwesenden Niçois applaudieren zuerst eine Minute lang zur spontanen Hommage an die Opfer. Dann bricht Schweigen über die Engelsbucht herein.

Am Ende sind Steinwürfe zu vernehmen. Zwanzig Meter weiter liegt die letzte "Oase". Es ist die des Attentäters. Seine Blutlache wird nicht mit Kerzen und Blumen geweiht; die Passanten werfen Steine und leere Aludosen, einige spucken auf den Ort, der bald einem Abfallhügel gleicht.

"Mörder"-Rufe gegen Valls

Dann kommt Bewegung in die Menge, als ein Polizeikordon Platz schafft für Premier Manuel Valls. Der gerade aus Paris eingeflogene Regierungschef wird mit Pfiffen und Buhrufen empfangen, einige schreien "Rücktritt", einer sogar "Mörder". Die Wut ist blind, und sie ist größer denn je in Nizza, wo mehr als ein Drittel Front National wählt. Einige werfen die weißen Rosen, die in der ganzen Stadt verkauft werden, um einen Fonds für die verletzten Opfer zu öffnen, auf den sozialistischen Premier.

Wer ein paar Schritte meerwärts tut, staunt: Am Strand, nur Meter vom Ort des Horrors, sonnen sich Badegäste auf dem berühmten Kies. Houss, Strandwärter, der Schwimmringe und Sonnencreme verkauft, ist besorgt, dass die Liegen weniger stark besetzt sind als üblich. Von dem Treiben oben bekommt er wenig mit. "Ich weiß, was geschehen ist, das war grauenhaft", sagt er. "Aber hier ist der Strand, hierher kommen Leute, um sich zu bräunen und zu vergessen." (Stefan Brändle aus Nizza, 18.7.2016)